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Comic Blog


Freitag, 07. April 2017

ERICH OHSER alias e.o.plauen – Die Werkausgabe

Filed under: Biographie — Michael um 17:46

ERICH OHSER alias e.o.plauen - Die WerkausgabeWenn ein Künstler wegen seiner Arbeit sterben muss: ERICH OHSER ist durch seine Arbeiten über VATER UND SOHN lange nach seinem Tod noch bekannt. Zeitweilig ist die Bekanntheit durch die Serie sogar eine Art Schutz für den Zeichner, der Jahre vorher für den VORWÄRTS, die Parteizeitschrift der SPD, arbeitete und nun wegen seiner Karikaturen auf der schwarzen Liste der neuen Machthaber, der NSDAP, steht. Der Künstler, dazu gezwungen, unter einem Pseudonym zu arbeiten, wird nun noch mehr in die Enge gedrängt, indem er aufgefordert wird für die neue Zeitung DAS REICH zu arbeiten.

Ein Wehren ist nur in Details möglich. Welche Konsequenz eine komplette Verweigerung hat, ist für den umsichtigen und aufmerksamen Ohser nur allzu deutlich. 1944 wird Erich Ohser zusammen mit einem Freund denunziert und verhaftet. Ohser kommt dem Todesurteil zuvor, indem er sich in seiner Zelle das Leben nimmt. In seinem Abschiedsbrief nimmt er jegliche Schuld auf sich. Es ist zwecklos und bewahrt den Freund Erich Knauf nicht vor der Hinrichtung. ERICH OHSER wurde nur 41 Jahre alt.

Der SÜDVERLAG präsentiert eine Werkausgabe von ERICH OHSER alias e.o.plauen, dessen Lebensgeschichte vor Ereignissen über 70 Jahre nach seinem Tod wieder an Bedeutung gewinnt. ERICH OHSER karikierte Adolf Hitler, Joseph Goebbels und andere, stand für seine Meinung ein und musste deshalb sein Leben lassen. Zu einer anderen Zeit wäre er ein ganz schlichter Künstler gewesen und vermutlich wäre sein Werk noch viel, viel umfangreicher ausgefallen.

ERICH OHSER fällt durch seine Bandbreite und durch seine Neugier auf. Er arbeitet mit Bleistift und Tusche, Tinte, erstellt Radierungen, Holzschnitte, malt, skizziert, karikiert, entwirft Bildgeschichten mit Moral und Humor. In seinen Portraits finden sich Parallelen zu einem Otto Dix. Treffsicher bildet er in den Gesichtern Charakterzüge ab, ob komplett naturalistisch oder abstrakt verzerrt. Während in Gebrauchszeichnungen und Witzbildern Stilistiken, die auch in frühen Spirou + Fantasio Szenarien zu finden sind oder auch bei Disney auf der anderen Seite des Erdballs. In seinen Karikaturen verliert sich die Gummimännchenoptik, denn diese Technik hier ist auch Jahrzehnte später in ihrer Ausführung erstaunlich präsent.

Zwei besondere Schwerpunkte zeichnen sich im Gesamtwerk von ERICH OHSER ab. Da ist einerseits natürlich VATER UND SOHN, die sein Talent der Bilderfolge und des Geschichtenerzählens (größtenteils ohne Worte!) aufzeigen. Andererseits wird mit der bildhaften Umsetzung von RUDYARD KIPLINGS »DAS KOMMT DAVON« sehr deutlich, wie schön ERICH OHSER gerade für die kleineren Leser arbeiten konnte. Seine Studien zu Natur und Tieren werden ihm da sehr geholfen haben, diese liebevollen Szenarien zu erstellen.

Aus heutiger Sicht ist die Vermarktung, die rund um VATER UND SOHN anläuft, bemerkenswert. In den 1930er Jahren tauchen die beliebten Figuren bald in der Reklame auf, sie werden zu Abziehbildern, Puppen sogar. Bevor der Begriff des Merchandising richtig populär wurde, schöpften die Lizenzinhaber die heute bekannten Mittel aus, im Rahmen der damals technischen Möglichkeiten.

Darüber hinaus funktionieren die auf 2-6 Bildern erzählten Begebenheiten auch heute noch. Sieht man einmal davon ab, dass die beiden natürlich einen nostalgischen Charme ausstrahlen und vermutlich heute anders aussehen würden, ist ihr langer Erfolg sicherlich u. a. darüber erklärbar, dass sie sich in dieser Gestalt optisch ohne anzuecken in die 1960er Jahre retten konnten. Die modische Erscheinung steht dem nicht entgegen. Ihre Erlebnisse sind stets heiter. Ganz wichtig: VATER UND SOHN sind ein Team. Kugelige Köpfe wie hier waren schon häufig Teil eines durchschlagenden Erfolgs. Der eine trägt die auffälligen Haare unter der Nase (VATER), der andere auf dem Kopf (SOHN). Einer Person wird niemals ernsthaft geschadet, Schadenfreude hingegen gehört auch zum Konzept. Der Abschied der beiden, die letzte Geschichte, der Gang in den Himmel, von wo sie als Mann im Mond und Sternchen auf die Erde herabschauen, ist rührend.

Eine interessante, filmreife Lebensgeschichte, durch und durch ein Künstler, ein liebender Vater, vom Glück zeitweilig begünstigt, dennoch ein Pechvogel, vielleicht zur falschen Zeit geboren. Die Werkausgabe von ERICH OHSER alias e.o.plauen gibt tiefe Einblicke in die Künstlerseele Ohsers, einschließlich der künstlerischen Szene von damals, inmitten des späteren kulturellen Niedergangs unter der Diktatur des Dritten Reichs. Lesenswert! 🙂

ERICH OHSER alias e.o.plauen, Die Werkausgabe: Bei Amazon bestellen
Oder im Südverlag.

Freitag, 15. Mai 2015

Das Nest 9 – Notre Dame

Filed under: Biographie — Michael um 17:07

Das Nest 9 - Notre DameMaries Schwangerschaft ist weit fortgeschritten. Im kleinen Dorf Notre-Dame-des-Lacs im kanadischen Nirgendwo herrscht freundliches Rätselraten darüber, wer vielleicht der Vater sein könnte. Dabei haben die Einwohner mit vielerlei Veränderungen zu tun, an denen die bevorstehende Ankunft eines neuen Erdenbürgers nur einen kleinen Anteil hat. Moderner Tanz hat im Dorf Einzug gehalten. Die Frauen gönnen sich neue Kleider, selbst genäht, aber modisch, wie man in Montreal sich eben fein macht, und lassen den eintönigen Alltag einmal beiseite. Aber wie werden die Männer reagieren, die bald von der wochenlangen Arbeit nach Hause kommen? Wie werden sie die Veränderungen empfinden, die sich in Notre-Dame-des-Lacs über viele Monate eingeschlichen haben?

Band Nummer 9 beendet eine wunderbare Geschichte über einen Wandel zum Besseren, zu mehr Freiheit, die von einem Toten aus der Ferne ab und an kommentiert wird, denn mit einem Toten begann alles und mit einer Geburt endet es. Die von Regis Loisel und Jean-Louis Tripp geschilderten Veränderungen gingen nicht gänzlich ohne Ängste und Nöte vonstatten, nicht ohne Zorn, nicht ohne Animositäten, Mut, Toleranz und Tatkraft wie auch Tapferkeit.

In der abschließenden Episode der Reihe Das Nest breiten Loisel und Tripp wieder die gesamte menschliche Palette einer Zeit im Wandel aus, vermeiden die Katastrophen, die ungewollten, nicht. Längst haben die Einwohner des Örtchens damit aufgehört, sich selbst oder anderen das Leben schwer zu machen. Aber Zufälle können eben auch in Katastrophen münden und dann zeigt sich, wie engmaschig die Zugehörigkeit der Dörfler inzwischen geworden ist. Zuvor kommen und gehen die Jahreszeiten, der Frühling steht vor der Tür und die Veränderungen erfassen Seele und Gemüt der Menschen. Manche alte Beziehungen erblühen gar neu und wo Vertrautheit war, entsteht plötzlich eine neue, ungewohnte Schüchternheit.

Loisel und Tripp sind Meister der kleinen Szenen, deren Inhalt den gezeigten Umfang sprengen. Regis Loisel hat sich seit langem in die Herzen der Comic-Leser geschrieben und gezeichnet und zeigte so, wozu die grafische Erzählung fähig ist, hier mit allen Facetten eines optischen Romans und einer kommentierten Illustration. Mit dieser Reihe verschwimmen die Grenzen zwischen den Medien deutlich. Die Bilder sind durchweg gelungen, nachdem sie durch die Hände der beiden Comic-Künstler gingen und kolossal von Francois Lapierre koloriert wurden. Wie sich hier alles zueinander fügt, ohne gefühlsduselig zu sein, ohne platt zu werden, ist feinste Erzählkunst, unabhängig vom Medium Comic.

Das optisch Schöne, hier noch im Gegensatz zu den vorherigen Ausgaben grafisch Schwarzweißschnappschüsse untermauert, ist die Darstellung der Gemeinschaft, die durch die starke Individualität der einzelnen Figuren an großer Tragkraft gewinnt. Die Einblicke in das dörfliche Leben beschwören ein einfacheres Lebensgefühl herauf, ein überschaubares, oft glückliches, zu dem jeder einen Teil beitragen kann und wirklich niemand außen vor bleibt. Überspitzt gesagt generieren Loisel und Tripp ein schlichtes Utopia abseits glänzender Stahlglasbauten, wie sie so gerne zur Illustration von dergleichen Entwürfen herangezogen werden.

So fühlbar wie das Szenario sind die Grafiken, die das Handwerk erkennbar halten: Bleistiftstriche, Tusche, unregelmäßigen Farbauftrag, aufgesetzte Lichter. Es sind freundlich wirkende Bilder, die niemals schockieren wollen und selbst in Katastrophen heranholen, mitnehmen und trösten. Die übrige Zeit mag man sich einfach nur darüber freuen, ganz besonders dann, wenn Marie, die Hauptfigur, um die sich alles dreht, wieder in den Mittelpunkt rückt. Die Momente, in den sie ihre Schwangerschaft einfach genießt und auch jene Augenblicke, in denen sie ihr Glück mit ihrem guten Freund Serge teilt, gehören zu den Höhepunkten der Handlung.

Wann gab es das zuletzt: Ein Comic, nach dessen Lektüre sich man gut fühlt? Das geschieht nicht häufig und schon gar nicht über die gesamte Reihenlänge von neun Folgen. DAS NEST ist ein Kunststück gelungener Erzählung und eine weitere Seite von Regis Loisel. Ein toller Abschlussband, eine sehr empfehlenswerte Serie. 🙂

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Mittwoch, 08. Oktober 2014

HERR LEHMANN

Filed under: Biographie — Michael um 19:17

HERR LEHMANNDer Schneider-Jürgen ist tot. Aber nichts Genaues weiß man nicht. Der Erwin hat es den anderen erzählt. Und jetzt rätselt man, woran der Schneider-Jürgen gestorben ist. Und eigentlich rätselt man nur deshalb, weil dieser Rainer an der Theke, der immer Kristallweizen trinkt, dem Schneider-Jürgen ähnlich sieht. Der Kerl, von dem man nichts weiß (außer der Tatsache, dass er ein Kristallweizen nach dem anderen trinkt), könnte von der Polizei sein und auf der Suche nach Drogen. Die Polizei tut sich jetzt in den Kneipen in West-Berlin um, hört man, also vielleicht ist der Kerl von der Polizei. Herrn Lehmann wird die Diskussion zu bunt, steht auf, geht hin und fragt einfach nach.

Herr Lehmann ist in gewisser Weise ein Philosoph. Er hat in seinem 30jährigen Leben Erkenntnisse gesammelt, zuletzt lange hinter dem Tresen. Einwände, passende und unpassende Antworten, Urteile und mitunter zutreffende Vorurteile gibt er gerne zum Besten. Irgendwie muss das Umfeld von Herrn Lehmann begriffen haben, dass Herr Lehmann ein etwas anderer Zeitgenosse ist. Eigentlich möchte er viel lieber Frank gerufen werden. Schließlich ist das sein Vorname. Aber Herr Lehmann hat sich zu Herrn Lehmanns Leidwesen durchgesetzt. Sven Regener schrieb den Kultroman um Herrn Lehmann, der die letzten Tage kurz vor dem Mauerfall in West-Berlin erlebt.

Alles beginnt mit einem fremden Hund, der Herrn Lehmann nach einer langen Nacht auf dem Bürgersteig aufhält und nicht vorbei lassen will. In schwarzweißen Bildern, mit aquarellierten Graustufen hat Comic-Künstler Tim Dinter den Roman in einer Graphic Novel eingefangen. Es ist ein großes West-Berlin, seltsam leer manchmal, in dem so mancher in Herrn Lehmanns Bekanntenkreis sich treiben lässt, von Kneipe zu Kneipe. In dieser Szene, deren Netz über den kapitalistischen Teil Berlin verwoben ist, stößt Herr Lehmann also auf diesen Hund. Nach Momenten der Angst wird eine Lösung gefunden, wie er mit diesem knurrenden und offensichtlich auf Konfrontation eingestellten Ungetüm fertig werden kann. Er macht den Hund betrunken.

Die Geschichte beschreibt ein Lebensgefühl. Nicht nur ein einzelnes. Es bildet sich aus einer ganzen Gruppe heraus, in deren Mittelpunkt, ob er will oder nicht (meistens will er nicht), Herr Lehmann steht. Wenn Not am Mann ist, in einer der Kneipen, die sein Boss besitzt, dann wird Herr Lehmann gerufen. Und Herr Lehmann kümmert sich. So ist die Bezeichnung Herr Lehmann nicht nur schnoddrig dahin gesagt, sie ist auch eine offenkundige Form des Respekts. Gibt es Probleme? Keine wirklichen. Na, gut, man fliegt als Hetero (und als Frau) mal aus einer Schwulenbar raus. Frauen kennen im Bereich Verliebtsein verschiedene Schattierungen. Herr Lehmann kannte bisher nur eine.

Und dann? Kommen eben doch echte Probleme und Veränderungen. Eine davon ist die 30. Denn die bezeichnet plötzlich das Alter von Herrn Lehmann. Karl bekommt echte Schwierigkeiten, solche, die Herrn Lehmann überraschen, aber denen er sehr gefasst begegnet und weitaus besser, als es die anderen in seinem Umfeld machen. Tim Dinter setzt die Erzählung um Herrn Lehmann in sehr klare Bilder um, die besonders ans Herz gehen, wenn der einmal lieb gewonnene Karl Schwierigkeiten macht. Die Gesichter der Figuren bleiben prägnant, gut erkennbar, in einem Bildausschnitt, der an das Pantoffelkino erinnert.
Eine der schönsten Szenen, auch eine, die Herr Lehrmann selbst in Schwierigkeiten bringen kann, ist, als er (weil er wieder einmal jemandem einen Gefallen tut) in der DDR, Ost-Berlin, mit 500 Westmark erwischt wird. Die einfache Darstellung, zusammen mit dem feinen Dialog, ist rundum gelungen und zeigt gleichzeitig, wie man’s macht.

Eine sehr umfangreiche Adaption des Erfolgsromans von Sven Regener ins Medium Comic. Als Graphic Novel von Tim Dinter gezeichnet, funktioniert der Witz, die Melancholie und Nostalgie der Handlung auch hier ausgezeichnet. Wer den Roman verpasst hat, lieber in optischen Kapiteln liest, wird den ganz eigenen Charme von Herrn Lehmann auch auf diesem Wege lieben lernen. 🙂

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Sonntag, 24. August 2014

Sechs aus 49 – Band 2 – Camille

Filed under: Biographie — Michael um 19:40

Sechs aus 49 - Band 2 - CamilleDer Umstand, keine Wahl zu haben, zwingt einen Menschen zum Handeln. Die Wahl zu haben, so scheint es, macht orientierungslos und bringt manches Gemüt dazu, mit dem eigenen Schicksal zu hadern, aus der Spur zu geraten. Der Autor Thomas Cadene lässt seine ursprüngliche Kernfigur Mathilde, die in die glückliche Lage versetzt wurde, die Hälfte eines Multimillionengewinns zu erhalten, immer weiter aus ihrem ursprünglichen Leben abdriften.

Was wichtig war, ist zur Gänze in Frage gestellt. Was bleibt: nichts. So scheint es. Mathilde scheut es, mit ihrem Gewinn ein Ziel zu finden. Selbst ein Urlaub scheint nicht planbar. Ein Mann ist nur zum Sex gut. Dem anderen Mann, derjenige, den das Herz begehrt, will sie nicht über den Weg trauen. Langsam erwachen die inneren Dämonen hinter den geistigen Mauern zu Leben und beginnen mit ihren Einflüsterungen, wer und was gut für sie ist, nämlich nichts und niemand. Mathilde zieht sich immer weiter zurück.

Thomas Cadene lässt seine Mathilde nicht im Stich, versetzt sie aber zusehends an den Rand, denn im Kielwasser der Ereignisse um den Millionengewinn sind noch andere Situationen und Konstellationen entstanden, abseits von Gedanken ans liebe Geld. Eine der einprägsamsten, auch ausdrucksstärksten ist die Geschichte um Hippolyt und Faustine. Hier wird Müßiggang und Ziellosigkeit groß geschrieben. Der Lebensinhalt besteht in der Verdammung der anderen, gerne auch der eigenen Familie. Faustine ist langsam genervt vom Verhalten ihres Mannes. Ein einschneidendes Erlebnis (nennen wir es so, ohne zu viel verraten zu wollen) zwingt zur Verhaltensänderung und zum Umdenken.

Auch andere Charaktere erhalten einen derartigen Anstoß in ihrem Leben, weniger drastisch und dramatisch. Manchmal ist es nur ein kleiner Schubs, beim nächsten ein gemeiner Rempler. Wie sich das Leben, genauer das Zusammenleben von Mathildes Eltern verändert, ist anfangs nur ein schleichender Prozess gewesen, der nun deutlich an Fahrt gewinnt. Irene, die Mutter, ist in diesem Prozess diejenige, die sich vom Rest der Familie abnabelt, mit deutlichen Worten sogar. Und, aus Sicht des Lesers, aus mehr als einem verständlichem Grund. Es gibt also auch Sympathien zu verteilen.

Auch im zweiten Band hat sich eine Vielzahl von Zeichnern zusammengefunden, um das umfangreiche Projekt von Thomas Cadene zu unterstützen. Diesmal sind es sage und schreibe 18 Künstler. In der Bandbreite von Minimalismus über Skizze, verschiedenen Techniken mit Aquarell und Tusche, Buntstiftarbeiten und Graustufenabbildungen und anderen experimentierfreudigen Grafiken ragen ein paar Comic-Künstler heraus. Es sind jene, die dem eigentlichen Szenario, der Geschichte wie auch dem gesprochenen Text durch die bloße Inszenierung weitere Informationen mit scheinbar leichter Hand hinzufügen.

Philippe Scoffoni ist ein solcher Zeichner. Von ihm stammt auch das Titelbild des vorliegenden Bandes. Seine Episode birgt zwei Schlüsselszenen, besondere Begegnungen, mal heimlich, mal offen und direkt. Scoffoni gelingt es auf sehr intuitive Weise, die Gefühle seiner Figuren einzufangen. So wirkt es jedenfalls. Wie viel Arbeit und auch Testen nötig ist, wie lang der Weg zu diesem Ergebnis ist, lässt sich schlecht sagen. Eindringlicher gerät die Episode, die Manu-xyz gestaltet, reduzierter, mehr auf Karikatur hin ausgerichtet als bei Scoffoni, verspielter in den Graustufen. Ihre Bilder stützen die Tragik der Situation, die für den Leser nicht vorhersehbar war und einer Handlungslinie eine völlig neue Richtung geben.

Vincent Sorels Buntstiftbilder sind einfach knuffig zu nennen und es ist durchaus mutig von Thomas Cadene derart muntere, strahlende Grafiken den zuweilen düster anzuschauenden Passagen von Künstlerkollegen einander gegenüberzustellen. Tanxx zum Beispiel tuscht in harten Strichen und macht aus den Akteuren so etwas wie Verdächtige. Bandini taucht mit weichen Aquarellfarben alles in ein helles Licht, in eine dauerhafte Morgendämmerung. Die Bilder strahlen gleich viel mehr Hoffnung aus. Jemand wie The Black Frog meißelt die Szenen in harten Kontrasten auf das Papier, leuchtend zwar, aber streng konstruiert.

Es wird trauriger, noch ernsthafter. Thomas Cadene beschert seinen Figuren einige Schicksalsschläge unterschiedlicher Härte, von jedem anders getragen. Die Interpretationen der Comic-Künstler halten das Projekt frisch und optisch spannend. 🙂

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Montag, 28. Juli 2014

Fröhliche Hundegeschichten

Filed under: Biographie — Michael um 18:55

Fröhliche HundegeschichtenDer Hund hört gut, sagt Konfuzius. Der Hund hört überhaupt nicht, sagt Bao. Die philosophischen Gespräche über das Thema Hund münden nicht gerade in einer Sackgasse, aber immerhin in einer für den modernen Menschen logischen, wenn auch keiner tierliebenden Konsequenz. Es sind die großen Geister, die sich mit dem Hund befassen, auch die Wissenschaftler, sogar Gott kommt nicht am Hund vorbei und sogar die Jungfrau Maria macht ihre einschlägigen wie auch außergewöhnlichen Erfahrungen, mit denen sie so manchen Hundefreund überraschen wird. Die dunklen Seiten eines Hundelebens werden ebenfalls nicht ausgespart. Manchmal liegt der Schrecken gar nicht im Detail.

Der Hund ist mehr als nur der beste Freund des Menschen. Er ist auch Kampftier, Versuchskaninchen und je nach Mythologie hat er auch eine ganz besondere Herkunftsgeschichte. Und Hund ist noch lange nicht gleich Hund. Mit Fröhliche Hundegeschichten legen Autor Leo Fischer und Illustrator Leonard Riegel einen Parcours quer durch das Universum rund um den Hund ein. Die Historie, vornehmlich persönlicher Natur, zwischen Mensch und Hund wird einer genaueren Betrachtung unterzogen. Aber es werden auch philosophische Fragen aufgeworfen, durch Freud sogar, der zu ergründen sucht, warum ausgerechnet die Katze als die aristokratischere der beiden Arten gilt, obwohl ihr Verhalten dem des Hundes in Gegenwart des Menschen tatsächlich hinterher hinkt.

Der Blick auf den Hund erlaubt einen Blick auf den Menschen. Nicht alles ist Interpretation, manches ist vom Menschen herbeigeführt und gut ist es erst recht nicht alles. Der Hund, der auf russischer Seite gegen die Wehrmacht kämpft. Der Familienhund der Adornos, der, weil ganz Hund eben, mit den Erziehungsmethoden der Familie nicht umzugehen versteht und elendig eingeht. Positiver sind jene Mythen, die den Aufstieg des Hundes von der wurmähnlichen Form zu einem stattlichen Exemplar samt Beinen und Schlappohren zeigen.

Leo Fischer, als Chefredakteur ehemals dem Satiremagazin Titanic verbunden, erzählt sehr unterschiedlich, bitterböse mitunter, heiter, auch freundlich dem Hund gegenüber, deswegen auch mitleidig, lächelnd und natürlich tragen er, der Hund, und Scarlett Johansson zu einem versöhnlichen Ende der Welt bei. Der Hund erlaubt auch den mikroskopischen Blick auf die menschliche Gesellschaft, kaum eine gute, stets etwas lächerlich, manchmal mehr, manchmal weniger.

Leonard Riegel, als Illustrator ebenfalls der Titanic zugetan, verwendet verschiedenste Illustrationsformen, häufig sehr verspielt, skizzenhaft, mal als Bild zum Text, mal als Bildergeschichte, Minicomic, Bilderwitz, verfremdeter Fotografie oder schwarzweißen Holzschnittimitation. Grundsätzlich sind diese Hunde niemals unfreundlich, selbst wenn sie in der Hölle landen (wie eine nette Geschichte erzählt). Wer den zähnefletschenden Hund sucht, muss genau hinschauen (ein schönes Suchrätsel). Es wird nicht benannt, ob Leonard Riegel Hunde mag, seine Darstellung in den sehr unterschiedlichen Szenarien, die Leo Fischer ihm vorgibt, legen jedoch den Schluss sehr, sehr nahe.

Ganz und gar nicht nur für Hundefreunde. Von der humoristischen Seite eines Leo Fischer und Leonard Riegel aus betrachtet sind Hunde in vielen Schlüsselmomenten der menschlichen Geschichte anwesend und beeinflussen viele Seiten des Aufstiegs und Niedergangs der humanoiden Gesellschaft. Mit scharfen Witz erzählt und gezeichnet. 🙂

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Montag, 30. Juni 2014

Sechs aus 49 – Band 1 – Mathilde

Filed under: Biographie — Michael um 9:47

Sechs aus 49 - Band 1 - MathildeMathildes Vater ist kein Karl Marx, das System jedoch, das es einer Lottoanstalt ermöglicht mit einem Höchstgewinn von 60 Millionen Euro zu prahlen und den Menschen die Köpfe zu verdrehen, ist zu verachten. Mit seiner Denkweise stößt er regelmäßig bei Frau und Tochter an. Man könnte auch weniger freundlich sagen, er geht ihnen mit seinen Vorträgen über die Verderbtheit der Gesellschaft auf die Nerven. Mathilde hat derlei Phrasen, so nennt die Mutter die Wortspiele des Vaters, oft genug gehört, um nicht gleich von ihrem Gewinn zu erzählen, den sie gemacht hat. Denn die Hälfte der besagten 60 Millionen Euro gehören ihr.

Was wäre, wenn ein wildfremder Mensch einen Lottogewinn mit Dir teilt? Und nicht nur eine kleinere Summe, so ein Milliönchen, sondern einen richtigen Knaller: 60 Millionen. Und die Hälfte davon bekommst Du! Über die Grundidee, Millionär über Nacht und unerwartet, als Geschenk, grübelten bereits Nicolas Cage und Bridget Fonda in 2 Millionen Dollar Trinkgeld. Thomas Cadene geht noch einen Schritt weiter, holt die Supergewinne der Neuzeit in die Geschichte und knallt seinen beiden Gewinnern gleich 60 Millionen Euro um die Ohren. Die eine, Mathilde, weiß zunächst nicht, wie ihr geschieht. Der andere, Hippolyt, ist schon reich. Viel ändert sich für ihn nicht. Oder doch?

Und ob sich etwas ändert! Autor Thomas Cadene, der schnell erkannt hatte, dass ein Mammutprojekt dieser Art mit einem Zeichner allein nicht zu realisieren ist, arbeitet gleich mit mehreren Künstlern zusammen. Diese Änderung über die üblichen Duos oder Trios hinaus schafft einen besonderen Reiz, da jeder Zeichner seine optische Interpretation einbringt. Die Wirkung ist mal komödiantischer, mal tragischer, auch dramatischer, heiter oder düster, obwohl die Geschichte im Gleichklang forterzählt wird. Es ist ein gutes Beispiel, wie stark sich über die Optik die emotionale Reaktion des Lesers beeinflussen lässt.

Thomas Cadene beschreibt einen Millionengewinn. Nicht irgendeinen, nicht den höchsten, beileibe nicht den geringsten. Zuerst ist es ein Tagtraum, ein Unglauben, dann die Wahrheit, die Realität, der die Frage folgt: Was nun? Mit 30 Millionen Euro im Säckel muss doch nicht so, auf die bewährte Art und Weise weitergelebt werden? Und der Vater, der doch tatsächlich verlangt, das Geld zurückzugeben, der hat sie doch nicht mehr alle. Halbwegs freundlich formuliert. Das beantwortet jedoch nicht die elementare Frage: Was nun?

Mathilde beschreitet einen normalen Lebensweg, aus verantwortungsvollem Elternhaus, studiert, hat einen Freundeskreis. Dann schleicht sich mit dem Gewinn eine Veränderung ein, die zunehmend unheimlicher wird, da sie auch den Charakter angreift. Plötzlich lautet die Frage: Was muss ich mit 30 Millionen Euro überhaupt noch? Mathilde bewegt sich zuerst vorsichtig, später heimlich, schließt neue Bekanntschaften. Was zunächst nach einer, zugegeben, Seifenoper mit ungewöhnlichem Thema aussah, wird dank der französischen Sichtweise, auch der Art Geschichten zu erzählen, die auf frankophoner Seite der deutschen voraus ist, mit zunehmendem Tiefgang versehen.

Die Zeichner brillieren mit völlig gegensätzlicher Stilistik. Da findet sich eine bittersüße Art des Zeichnens, fast naiv zu nennen (Vincent Sorel). Zeichner wie Aseyn crashen das Szenario in einer Form der Selbstentblößung der Charaktere. Andere Zeichner wie Tanxxx finden eine sehr freundliche Annäherung mit für den unbedarften Comic-Leser sehr comic-artigen Figuren. Künstler wie Clotka warten mit einem verrutschtem Simpsons-Design auf. The Black Frog und Philippe Scoffoni treffen mit ihrer dokumentarisch, realistischen Stilistik für mich am meisten die optische Form einer Graphic Novel. Letzterer Zeichner bietet meiner Meinung nach auch die schönsten Interpretationen der Hauptdarsteller.

Die erwähnten Zeichner sind nur ein Ausschnitt der Bandbreite künstlerischen Schaffens, die hier zu finden ist. Jedes Kapitel, mit jedem Zeichnerwechsel also, enthält in Portraits vorangestellt die jeweils handelnden Akteure, damit der Leser trotz der optischen Veränderung sich schnell wieder einfindet.

Das können nur die Franzosen (immer noch meine Meinung) richtig gut! Thomas Cadene nimmt ein scheinbar leichtes Thema, offenbar eine Seifenoper und generiert aber viel tiefer reichend ein Zeitbild, bietet Komödie und Tragödie, leicht erzählt, interessant und unterhaltsam, sehr dicht. Wer auf der Suche nach einem im Comic wenig vertretenen Thema ist, Realismus in diesem Medium mag, sollte einen Blick riskieren. 🙂

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Links: Sechs aus 49 auf FAZ.NET

Montag, 23. Dezember 2013

Blau ist eine warme Farbe

Filed under: Biographie — Michael um 11:02

Blau ist eine warme FarbeClementine, kurz Clem genannt, ist ein ganz normales Schulmädchen mit ganz normalen Problemen, käme ihr nicht sehr bald schon das Erwachsenwerden in die Quere, die Liebe und all jene Störfaktoren, die doch bis hin zur Tragödie so anziehend sind. Ihr Störfaktor, der sie so verwirrt, ist eine junge Frau mit blauen Haaren, die sie kurz auf der Straße sieht, ihr in die Augen schaut. Es ist nur ein Moment und dennoch kann Clem diesen Augenblick nicht vergessen. Es vergeht Zeit. Clem lebt ihr Leben und zieht eines Tages mit einem Freund neugierig, ein wenig ängstlich und abenteuerlustig durch die anrüchige Homoszene. In einem Club trifft sie die Frau mit den blauen Haaren wieder. Emma, so ihr Name, hat Clem ebenfalls nicht vergessen.

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sich die Homosexualität weiter in das Leben der Gesellschaften integrierte, waren dennoch viele Hürden zu nehmen. Normalisierung bedeutete in jenen Tagen noch einen langen Weg, der nicht zu Ende beschritten ist. Die Figur der Clementine macht plötzlich die Erfahrung, sich zu einem Menschen ihres eigenen Geschlechts hingezogen zu fühlen. Das hatte sie so nicht geplant, stand immerhin das nähere Kennenlernen eines Jungen, Thomas, auf dem Programm. Julie Maroh, Autorin und Künstlerin, die hier eigene Erfahrungen verarbeitet, zeigt den inneren Kampf von Clem um das Verständnis um die eigenen Wünsche, Begierden, das Leben an sich.

Und sie zeigt den äußeren Kampf gegen andere Menschen, die eigenen Eltern, wieder um Verständnis, aber sie zeigt auch die Überzeugungskraft, die nötig ist, um Emma zu beweisen, dass Clem nicht nur einer Laune folgt, die sie bei dem nächsten Kerl wieder zu den Akten ihrer Erinnerungen legt. Liebe bedeutet hier ein Risiko und Clem ist bereit, dieses Risiko einzugehen, von dem sie zunächst glaubt, sie könne es überlisten, in aller Heimlichkeit. Aber Liebe will nicht heimlich gelebt werden. So könnte die Erkenntnis lauten, die sich sehr schnell aus der Geschichte von Julie Maroh ergibt. Und so hat die Öffentlichkeit der Beziehung bald schon die erwartbaren Folgen.

In einer Liebe mit all ihren Höhen und Tiefen ist der Weg dorthin bereits hier steinig und nicht immer ist abzusehen, was einmal daraus werden wird (obwohl die Geschichte im Rückblick erzählt wird). Der Rückblick ist im Bild schwarzweiß, nur das Blau ist eine Farbe, die Clem nie vergessen hat, die das hervorstechende Merkmal jener Lebensphase gewesen ist. Blau war ein Magnet, auch ein Anker für beide Frauen. Julie Maroh verwendet die Farbe genau auf diese Weise. Eigentlich nur bei zwei Gelegenheiten drückt die Farbe auch Hoffnungslosigkeit aus: in der Farbgebung vom Clems Tagebuch, denn was hier drin geschrieben steht, kann nicht mehr geändert werden. Und in einem kleinen blau gefärbten Jungen, einem Kleinkind, das Clem in ihren Träumen sieht und ihre Beziehung zu Emma zur Familie machen würde.

Julie Maroh zeichnet eine Graphic Novel. In diesem Bereich herrschen ganz eigene Regeln, Zeichenkunst ist meist stilisierter, auch reduzierter, Inhalt geht oft vor Bild. Szenen und Sequenzen nehmen sich mehr Zeit, als ihnen sonst üblicherweise eingeräumt werden. Marohs Stilistik findet ein Menschenbild, das sich in den Charakteren wiederholt. Unterscheidungen finden sich in Frisuren und Kleidung. Alterserscheinungen werden zur Verkleidung, Menschen sind sich optisch ähnlich, Abgrenzungen finden durch Mentalitäten statt. Das Blau durchbricht die Stereotype. Die Titeloptik findet sich auf dem selben Niveau auch auf den einzelnen, über 150 Seiten wieder.

Anrührend, liebevoll erzählt, auch mit einiger Traurigkeit beschreibt Julie Maroh die Liebesbeziehung zweier Menschen, die zufällig Frauen sind, Höhen und Tiefen eingeschlossen, eine Geschichte ohne Happy End, aber mit einer Menge Glück auf dem Weg. 🙂

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Samstag, 26. Oktober 2013

Woman On The River

Filed under: Biographie — Michael um 9:26

Woman On The RiverEin paar Bilder an der Wand. Nackte Frauen, ein Haus, ein Baum, ein Jagdflugzeug. Ein Stuhl ist zum Tisch umfunktioniert. Eine Tasse Kaffee wird in dieser Umgebung zum Höhepunkt des Tages. Ein Stück Zucker versüßt die Bitterkeit. 35 Jahre lang hat Dennis in diesem Loch für zwei Personen verbracht. Während sein Zellengenosse seinen Verstand längst auf eine weite Reise ohne Wiederkehr geschickt hat, denkt Dennis immer noch darüber nach, wie er im Gefängnis gelandet ist. Nun kommt er frei. Nach so vielen Jahren sieht es zuerst so aus, als könnten die verbliebenen Tage noch ein Stück Menschsein und Menschlichkeit bringen. Etwas wie Frieden. Vielleicht auch innere Vergebung.

Ein Comic wie ein Song von Johnny Cash. Es ließe sich auch behaupten, dass dieser Comic den Blues atmet. Ein Mann hat eine schreckliche Tat begangen und kommt nach Jahren aus dem Gefängnis. Vor dem Gesetz und der Gesellschaft hat er gebüßt, doch innerlich ist er noch nicht mit sich im Reinen. Matthias Schultheiss zeigt einen gebrochenen Mann, der sich 35 Jahre lang im Gefängnis an seine Tat erinnert hat. Als er endlich das Gefängnis verlässt, ist diese Welt wie ein Traum. Nur langsam gewöhnt er sich an dieses neue Leben, in dem es sogar Freunde gibt. Aber, ein Aber das nicht fehlen darf im Blues oder in einem Johnny-Cash-Song, holt ihn die Vergangenheit wieder. Das gute Leben war nur vorübergehend, er hatte es nicht wirklich verdient, trotz Buße.

Woman On The River. Auch der Titel des vorliegenden Albums von Matthias Schultheiss klingt nach einem Song. Der Plot wird all jenen, die etwas interessiert sind an Thriller, Krimis, Knastfilmen vielleicht nicht allzu fremd vorkommen, aber es ist auch keine Geschichte, die allzu viele Variationen bietet. Auf den Plot kommt es, so merkwürdig das klingen mag, auch nicht in Gänze an. Matthias Schultheiss ist ein Comic-Zeichner, so bieten die Bilder die zweite Erzählebene und diese bringt viel mehr für den Leser mit.

Der Held der Geschichte erlebt nämlich etwas, das auch schon in Handlungen beschworen, aber noch nie so gezeigt wurde. Mehr soll dazu nicht gesagt werden, sicher jedoch setzt gerade dieser Start des Comics die Geschichte gleich in ein ganz anderes Licht. Und hier ist auch das Stichwort für die Überleitung: Licht. Die Welt von Dennis, dem ehemaligen Auftragskiller erstrahlt in meistens einem grüngelben, südlichen Licht, dort, wo der Sommer brennt, in einer Gegend, die an die Bayous erinnert, wo die Uhren anders ticken und manchmal sogar stehenzubleiben scheinen. In dieses Licht hinein schickt Matthias Schultheiss einen Geist.

Dennis, der ehemalige Auftragskiller, der sowieso von seinen Erinnerungen wie von bösen Geistern gequält wird, reagiert auf diesen Geist allerdings wie auf einen Engel. Matthias Schultheiss pflegt in dieser Geschichte das Spiel mit den Bildern, diesen kleinen Gleichnissen und Miniepisoden am Rande, die es zu entdecken gilt, und die dem Betrachter noch mehr von der Hauptfigur enthüllen. Kolorierung und Strichführung hierzu sind vergleichsweise grob, schaut man auf Werke von ihm wie zum Beispiel Reise mit Bill. Aber auch diese Grobheit, nennen wir sie Momentaufnahme, ist mit der Geschichte begründbar.

Es entspinnt sich eine kurze Liebe, vielleicht auch ein besonders sinnliches Begehren. Zwei Verlorene treffen aufeinander, ebenfalls ein beliebtes Thema in der amerikanischen Literatur oder der Literatur überhaupt. Das Schicksal hat ihre Lebensfäden miteinander versponnen, ohne dass die beiden zunächst davon wissen. Hier lässt sich die literarische Konstruktion sogar bis weit zu den alten Griechen zurückverfolgen. Und dennoch funktioniert diese Konstruktion bis weit in ein Postkriminellendrama hinein immer noch. Fast scheint es, als habe Schultheiss für seine Geschichte, die These aufgegriffen, dass gute Menschen manchmal auch böse Dinge tun. Zum eigenen Beweis reagieren Die neuen Nachbarn von Dennis überaus nett auf den früheren Häftling und dieser ist nur allzu gern bereit, die Sympathie zu erwidern.

Unter dem Strich eine traurige wie auch literarische Geschichte, mit der sich Matthias Schultheiss bei seinen Fans bestimmt wieder bestätigt. Sie mag nicht so bissig sein wie frühere Einfälle, dafür ist sie ruhiger und vielleicht an manchen Stellen auch versöhnlicher. 🙂

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Sonntag, 01. September 2013

Ein Frühling in Tschernobyl

Filed under: Biographie — Michael um 9:22

Ein Frühling in TschernobylNach Tschernobyl reisen und dort zeichnen? Welcher Europäer, welcher Mensch überhaupt würde sich an solch gefährliches Unterfangen wagen? Zu welchem Zweck? Emmanuel Lepage ist ein neugieriger Künstler, der den Schrecken der Atomkatastrophe im Kopf erlebt, aus Erzählungen und Dokumentationen, bevor er selbst dorthin aufbricht, um zu sehen und zu erleben, was die Jahre aus der Katastrophe gemacht haben.

Nur wenige Reiseziele besitzen einen derartigen Klang wie Tschernobyl, einem großen Mahnmal für eine nukleare Katastrophe. Lange war es ruhig darum, bis durch jüngere Ereignisse in Japan auch diese Stätte eines technischen Fehlschlags und großer menschlicher Verluste wieder ins Zentrum medialen Interesses rückte. Aber Autor und Illustrator Emmanuel Lepage setzt sich mit seinen Comic-Reportagen wohltuend von den nach Sensationen sonstigen Dokumentationen ab. Bereits mit Reise zum Kerguelen-Archipel hat er auf überragende Weise gezeigt, was Comic leisten kann. Gezeichnete Bilder, die viele mehr Informationen transportieren können, als es eine Fotografie vermag. Bilder, die neben der Grafik auch die Eintragungen des Autors in einer beinahe fühlbaren Weise unterstützen.

In der Ukraine, 22 Jahre nach dem Atomunfall im Atomkraftwerkskomplex Tschernobyl, wagen sich nicht nur Menschen von außerhalb langsam wieder in die verseuchten Gebiete hinein. Tatsächlich leben in den Randgebieten immer noch Leute, leben von Plünderungen und manch einer betrachtet es als Mutprobe, als Initiation zur Mannwerdung einmal in der verbotenen Zone gewesen zu sein und die Strahlung geschmeckt zu haben. Die Vorbereitungen zur Reise in diese Gegend erfordert von Emmanuel Lepage bereits überwinden. Er ist kein Einzelgänger, sondern ein Mensch, der mitten im Leben steht, mit Familie und Freunden. Eine Reise nach Tschernobyl ist auch ein Spiel mit dem Tod, obwohl ständig die Strahlung gemessen wird und vor Ort Vorkehrungen getroffen werden, kontaminiertes Material so gut es irgend möglich ist, nicht einzuatmen oder in die Behausungen mitzubringen. Auch Nahrungsmittel werden aus Frankreich mitgebracht.

Nicht alles funktioniert so reibungslos, wie es die Planung vorsieht. Wenn freundliche Gastgeber einem Speisen anbieten, was ist zu tun? Ablehnen? Oder im Sinne der Höflichkeit zugreifen? Emmanuel Lepage skizziert einen der unheimlichsten Landstriche der Erde, ein Beispiel dessen, was geschieht, wenn dem Menschen die Technik entgleitet und sich die Heimat gegen ihn stellt. Lepage zeichnet ein Geisterland, zurückgelassen, überstürzt selbstverständlich und nun dem steten Verfall ausgesetzt.

Emmanuel Lepage hält die Bilder meist düster, in kalten und warmen Grautönen und Brauntönen. Der Bleistiftstrich und Farbauftrag lassen die Katastrophe in noch weiterer Ferne liegen. Farbbilder, nicht häufig, lassen Lepage beinahe ein schlechtes Gewissen machen. Plötzlich wird das Land, dessen Pflanzen, auch Tiere, weiterhin gedeihen, viel zu freundlich, zu gesund. Aber hinter dieser Freundlichkeit lauert die unsichtbare Lebensgefahr, die Emmanuel Lepage mit einem beeindruckenden doppelseitigen Bild in Farbe portraitiert. Ein schöner Wald und dazwischen findet sich, auf den zweiten Bild ein einsamer, geschlechtsloser Spaziergänger mit einem Kinderwagen. Dieser Grafik folgt wieder der Verfall. Aber auch wieder Leben.

Man hat mich nicht hergeschickt, um so etwas mitzubringen! So schreibt es Lepage. Da ist zu viel Leben in und um Tschernobyl. Störche brüten auf Strommasten. Sogar Wölfe kehren in ein Land zurück, in dem die Menschen sich rar gemacht haben. Da ist zu viel hintergründige Hoffnung, die dem eigentlichen Auftrag zuwider läuft. Die Zeichner streiten sich. Soll man zeichnen, was man sieht oder was gesehen werden soll? Der Aufenthalt zermürbt, wirft mehr Fragen auf, als er Antworten bringt.

Emmanuel Lepage etabliert sich endgültig als Meister des Reise-Comic-Romans, will man einen Namen für dieses Genre finden. Die Bilder sind eindringlich, mit hoher Empathie erfasst, die Textbeiträge eine perfekte Ergänzung zur Illustration. Mit seiner Arbeit holt Lepage die Zwischentöne einer Atomkatastrophe ins Bewusstsein, die meist im Rahmen von medialer Berichterstattung untergehen. Und sie bricht das auf, was meist in der Flut neuer Nachrichten verloren geht: die Aufarbeitung, die Folgen, denn wie immer geht das Leben weiter. Irgendwie. 🙂

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Donnerstag, 25. April 2013

Eine Nacht in Rom 1

Filed under: Biographie — Michael um 11:05

Eine Nacht in Rom 1Ein Laserschwert? Sollte ein Mann um die 40 nicht zu alt dafür sein? Raphael nimmt das Geschenk mit einem vor Freude strahlenden Lächeln an. Sie nennen sich Jungs und Mädels, schenken sich Spielzeug und Süßigkeiten, rauchen und trinken, bis sie blau sind. Sie sind ewig jung, noch, bis ein Geschenk auftaucht, das ihnen zeigt, dass sie genau das eben nicht mehr sind: jung. Sondern um die 40. Nicht 20, wie das Pärchen auf der alten Aufnahme eines VHS-Videobandes. Sie tun heute sorglos, sind es aber nicht. Nicht so wie das Pärchen auf dem Videoband. Das hatte diese Jugend, diese Einfalt, diese Liebe, dieses Glück. Und dieses Lächeln. Mein Gott, dieses Lächeln!

Entscheidungen. Das Leben wird von Entscheidungen beherrscht. Man kann nicht nichts tun. Als die beiden jungen Leute vor zwanzig Jahren beschließen, sich nach dieser Zeitspanne wiederzusehen, in Rom, für eine Nacht, ganz gleich, was kommen mag, wirkt es zunächst wie ein Jux. Ein Versprechen, auf Videoband aufgenommen, ist eine nette Rückschau für Raphael. Zunächst. Schnell, viel schneller als ihm lieb ist, nagt die Botschaft dieses Bandes an ihm. Jetzt, zwanzig Jahre später, soll er seinen 40. Geburtstag gemeinsam mit Marie, seiner Jugendliebe verbringen. Sie hat ihm das Band geschickt. Sie wartet. Und Raphael dreht langsam durch. Er wägt ab, was er alles hat. Vor allem privat wirft er sein Leben in die Waagschale. Mit Sophie ist er eigentlich glücklich. Sophie ist gut für ihn. Marie hingegen ist Gift.

Verlockungen. Man weiß, dass es nicht gut ist, ihnen nachzugeben. Man wähnt sich derart erwachsen, dass man gegen sie argumentieren kann. Doch das Gefühl … Autor und Zeichner Jim, ein Künstler, der beide Seiten der Comic-Medaille beherrscht, jene mit Tiefgang, mit viel Menschlichkeit erzählt, und jene, die fern in Raum und Zeit spielen, die auf den Kracher setzen (YIU), ist im Comic-Genre allgemein eine der besonderen Größen. Hier nimmt er den Leser mit in eine sehr spezielle Phase des Erwachsenseins, auch in eine spezielle Beziehung.

Nicht jeder wird eine derart selbstzerstörerische Beziehung erleben. Auch die beiden Charaktere Raphael und Marie scheinen zunächst diese Beziehung weit und lange hinter sich gelassen zu haben. Viele Jahre sind vergangen, seit sie sich zum letzten Mal sahen. Doch die Magie, eine unangenehme, süßliche Anziehung, die wie eine Droge auf beide wirkt. Jim schildert die Entwicklung, den Drang dazu, das Treffen wahrzunehmen zuerst aus der Sicht Raphaels, kurz vor einer Mittellebenskrise stehend. Fragen schweben im Raum. Träume. Vor allem Träume. Sie äußern sich in Worten, aber auch in Blicken. In Haltungen. Ein Gefühl liegt in der Luft. Mancher fragt sich, ob wenigstens alles so ist, wie es sein sollte. Ob wird gerade in diesem Augenblick etwas verpasst? Wird man sich später über das Verpasste ärgern? Wann lohnt sich ein Risiko?

Auch Jim will diese Frage nicht beantworten. Er lässt seine Akteure Antworten finden. Keine guten Antworten, keine Ratschläge. Denn es gibt hier keine guten Ratschläge. Es gibt allenfalls eine Weisheit. Man kann nicht die eine Sache haben, ohne eine andere aufzugeben. Nicht: Alles oder nichts. Sondern: Dieses oder jenes. Jim beschäftigte sich bereits in Sonnenfinsternis und Die Einladung auf ausgezeichnete Weise mit menschlichen Beziehungen und Bedürfnissen. Hier hat er außerdem den Zeichenstift in die Hand genommen. Realistisch skizziert, mit butterleichter Abstraktion, ein wenig lieblicher als die Wirklichkeit, kommuniziert Jim über Gesichtsausdrücke, eindeutige Szenen und den wunderbaren Kniff, seine Leser mitdenken und knobeln zu lassen.

Menschen und Paris. Menschen und Rom Beide Städte stehen für eine Lebensart. Beide haben es geschafft, ein Gefühl zu vermitteln, durch ihre äußere Erscheinung, Literatur und Film. La Dolce Vita. Außer Atem. Jim lässt diese Gefühle in seine Geschichte einfließen, lässt seine Figuren zu Trägern dieser Gefühle werden. Ein Lachen, die Verzweiflung in den Augen, Liebe im Swimmingpool, eine Party in Paris. Und schließlich vermitteln einfache wie auch eindrückliche Farben jahreszeitliche Bedrückungen und Beglückungen, Gegensätze von Hektik und Ruhe, Landluft und Smog. Aus einer scheinbar unkomplizierten Handlung wird ein komplexes Muster, will man als Leser nur alles genüsslich in sich aufnehmen und begreifen. Oder man lässt sich an der Seite von Raphael einfach in den brodelnden Gefühlsstrudel zweier Menschen hineintreiben.

Ein ausführlich wie auch sehr interessanter Anhang vermittelt fein, wie sehr Jim mit Eindrücken und Ausdrücken, Details spielt, um das rechte Maß für die jeweilige Szene zu finden.

Hier ist ein fantastischer Erzähler am Werk. Jim führt eine Generation und ihre Leben ins Feld, ihre Lieben und Prinzipien, Träume, die sie haben und sich noch nehmen wollen. Hier muss bald der abschließende zweite Band her. Das ist zu gut, um lange darauf zu warten. 🙂

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