In einer Villengegend in Lyon bereitet sich eine junge Familie, ein Ehepaar und die kleine Tochter, auf einen gemütlichen Abend vor. Gäste werden erwartet. Leider sind für das geplante Abendessen noch nicht sämtliche Zutaten vorhanden. Sylvia St. Andre macht sich auf den kurzen Weg, um schnell das Benötigte einzukaufen. Der Abend schreitet voran, doch die Frau kehrt nicht zurück. Gil St. Andre denkt sich zunächst nichts dabei. Eine schlichte Verzögerung, nichts weiter. Aber je später es wird, desto mehr macht er sich Sorgen, fragt beim Lebensmittelhändler nach. Dieser hat Gils Ehefrau nicht gesehen. Am nächsten Tag ist Sylvia immer noch nicht wieder da. Gil wendet sich notgedrungen an die Polizei. Dort nimmt man seine Anzeige nicht allzu ernst …
Eine Dame verschwindet. Die Ausgangssituation dieses Thrillers ist denkbar einfach. Die Lösung für den titelgebenden Gil St. Andre ist weitaus schwieriger, nervenaufreibender und brandgefährlich. Der in dieser Gesamtausgabe 1. Zyklus des Titelhelden versammelt fünf Einzelbände, während derer der Entführungsfall, so viel darf verraten sein, abgehandelt wird. Den Auftakt der Geschichte schreibt und zeichnet Jean-Charles Kraehn fast allein, bei den Hintergrundzeichnungen holt er sich anfangs noch Unterstützung. Der Beginn ist klassisch und birgt stets ein gutes Ausgangsszenario, dessen weitere Entwicklung völlig offen ist. Jean-Charles Kraehn, da zeigt sich schnell, schöpft die Möglichkeiten einer Entführungsgeschichte voll aus.
Die Spur muss erst einmal gefunden werden und lässt, auch seitens des Lesers, der mehr als GIL ST. ANDRE weiß, was sich im Hintergrund abspielt, Schlimmstes für Sylvia befürchten. Jean-Charles Kraehn lässt seinen Helden, einen erfolgreichen jungen Mann, anfangs ziemlich allein auf die Jagd gehen. Mit Arroganz und Zynismus hält sich Gil St. Andre andere Menschen vom Leib, außer seine engste Familie, der er liebevoll begegnet und für die er alles zu geben bereit ist. So gibt er auch nach diversen Rückschlägen, auch Anschlägen auf sein Leben, die Suche nicht auf. Wie St. Andre anfänglich sich hauptsächlich durch seine große Klappe auszeichnet und später über sich hinaus wächst, ist anschaulich, nachvollziehbar und von einer französischen Thrillerspannung, die auch hier ohne Übertreibungen, höchst realistisch aufgebaut wird.
In der Haken schlagenden Handlung, die später in eine völlig andere Richtung steuert, als anfangs durch den Leser anzunehmen, wird Realismus groß geschrieben, genauer gesagt, gezeichnet. Erhält Jean-Charles Kraehn anfangs noch bei den Hintergründen Verstärkung (Dominique Drillet), greift im zweiten der hier versammelten Alben bereits Sylvain Vallee auf zehn Seiten ein, bevor er in der Folge die grafische Arbeit vollends übernimmt und die von Kraehn vorgegebene Stilistik beibehält. Freunde von Comic-Künstlern wie einem späten Hermann, Philippe Francq oder Marc Bourgne werden an den Zeichnungen ihre Freude haben.
Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Akte (bzw. Alben) macht auch den Reiz dieses Thrillers aus. Es beginnt in der Beschaulichkeit von Lyon, in der heilen Welt, wechselt in einen Kriminalfall, hinein ins Milieu, die Welt der erfahrenen und deshalb reichlich zynischen Kriminalistik. Die Schweiz, mit einem internationalen Saubermann-Image versehen, wird hier zum Gipfelpunkt der Thrillerhandlung, zu Lande, in der Luft und sogar im Wasser. GIL ST. ANDRE findet sich wenig gewollt und wenig erfahren in einer brutalen Action wieder, die seinen Tod zur Folge haben könnte. Das ist virtuos inszeniert, im geringsten Falle im Sinne einer starken Fernsehserienoptik.
Das Titelbild verrät es. Gil St. Andre macht sich allein auf den Weg, bestreitet den Fall aber auf Dauer nicht solo. An seiner Seite agieren die junge Polizisten Djida (die eine Schwäche für Gil entwickelt) und später der gestandene Polizist Fourrier, der wie eine Comicversion des kantigen Schauspielers Lino Ventura daher kommt. Gerade letzterer bringt einen bärbeißigen Humor in die Geschichte ein, etwas altmodisch, sehr hartnäckig und sofort eine Paradefigur für einen neuen Tatort-Ableger.
GIL ST. ANDRE hat alles, was ein guter Comic-Thriller – oder auch medienübergreifend Thriller überhaupt – braucht. Eine greifbare, stark skizzierte Hauptfigur, gelungene Mitstreiter und Nebenfiguren, knackige Rätsel, auf der prima Action aufsetzt, Fieslinge jedweder Couleur, auch jene Sorte, die nicht direkt als Halunke erkennbar sind. Die mehrheitliche Übergabe des Zeichenstifts von Jean-Charles Kraehn an Sylvain Vallee stellt einen Glücksgriff für das Gesamtwerk dar. Krimifans und Thrillerfreunde können bedenkenlos zugreifen. 🙂
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