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Comic Blog


Sonntag, 01. September 2013

Ein Frühling in Tschernobyl

Filed under: Biographie — Michael um 9:22

Ein Frühling in TschernobylNach Tschernobyl reisen und dort zeichnen? Welcher Europäer, welcher Mensch überhaupt würde sich an solch gefährliches Unterfangen wagen? Zu welchem Zweck? Emmanuel Lepage ist ein neugieriger Künstler, der den Schrecken der Atomkatastrophe im Kopf erlebt, aus Erzählungen und Dokumentationen, bevor er selbst dorthin aufbricht, um zu sehen und zu erleben, was die Jahre aus der Katastrophe gemacht haben.

Nur wenige Reiseziele besitzen einen derartigen Klang wie Tschernobyl, einem großen Mahnmal für eine nukleare Katastrophe. Lange war es ruhig darum, bis durch jüngere Ereignisse in Japan auch diese Stätte eines technischen Fehlschlags und großer menschlicher Verluste wieder ins Zentrum medialen Interesses rückte. Aber Autor und Illustrator Emmanuel Lepage setzt sich mit seinen Comic-Reportagen wohltuend von den nach Sensationen sonstigen Dokumentationen ab. Bereits mit Reise zum Kerguelen-Archipel hat er auf überragende Weise gezeigt, was Comic leisten kann. Gezeichnete Bilder, die viele mehr Informationen transportieren können, als es eine Fotografie vermag. Bilder, die neben der Grafik auch die Eintragungen des Autors in einer beinahe fühlbaren Weise unterstützen.

In der Ukraine, 22 Jahre nach dem Atomunfall im Atomkraftwerkskomplex Tschernobyl, wagen sich nicht nur Menschen von außerhalb langsam wieder in die verseuchten Gebiete hinein. Tatsächlich leben in den Randgebieten immer noch Leute, leben von Plünderungen und manch einer betrachtet es als Mutprobe, als Initiation zur Mannwerdung einmal in der verbotenen Zone gewesen zu sein und die Strahlung geschmeckt zu haben. Die Vorbereitungen zur Reise in diese Gegend erfordert von Emmanuel Lepage bereits überwinden. Er ist kein Einzelgänger, sondern ein Mensch, der mitten im Leben steht, mit Familie und Freunden. Eine Reise nach Tschernobyl ist auch ein Spiel mit dem Tod, obwohl ständig die Strahlung gemessen wird und vor Ort Vorkehrungen getroffen werden, kontaminiertes Material so gut es irgend möglich ist, nicht einzuatmen oder in die Behausungen mitzubringen. Auch Nahrungsmittel werden aus Frankreich mitgebracht.

Nicht alles funktioniert so reibungslos, wie es die Planung vorsieht. Wenn freundliche Gastgeber einem Speisen anbieten, was ist zu tun? Ablehnen? Oder im Sinne der Höflichkeit zugreifen? Emmanuel Lepage skizziert einen der unheimlichsten Landstriche der Erde, ein Beispiel dessen, was geschieht, wenn dem Menschen die Technik entgleitet und sich die Heimat gegen ihn stellt. Lepage zeichnet ein Geisterland, zurückgelassen, überstürzt selbstverständlich und nun dem steten Verfall ausgesetzt.

Emmanuel Lepage hält die Bilder meist düster, in kalten und warmen Grautönen und Brauntönen. Der Bleistiftstrich und Farbauftrag lassen die Katastrophe in noch weiterer Ferne liegen. Farbbilder, nicht häufig, lassen Lepage beinahe ein schlechtes Gewissen machen. Plötzlich wird das Land, dessen Pflanzen, auch Tiere, weiterhin gedeihen, viel zu freundlich, zu gesund. Aber hinter dieser Freundlichkeit lauert die unsichtbare Lebensgefahr, die Emmanuel Lepage mit einem beeindruckenden doppelseitigen Bild in Farbe portraitiert. Ein schöner Wald und dazwischen findet sich, auf den zweiten Bild ein einsamer, geschlechtsloser Spaziergänger mit einem Kinderwagen. Dieser Grafik folgt wieder der Verfall. Aber auch wieder Leben.

Man hat mich nicht hergeschickt, um so etwas mitzubringen! So schreibt es Lepage. Da ist zu viel Leben in und um Tschernobyl. Störche brüten auf Strommasten. Sogar Wölfe kehren in ein Land zurück, in dem die Menschen sich rar gemacht haben. Da ist zu viel hintergründige Hoffnung, die dem eigentlichen Auftrag zuwider läuft. Die Zeichner streiten sich. Soll man zeichnen, was man sieht oder was gesehen werden soll? Der Aufenthalt zermürbt, wirft mehr Fragen auf, als er Antworten bringt.

Emmanuel Lepage etabliert sich endgültig als Meister des Reise-Comic-Romans, will man einen Namen für dieses Genre finden. Die Bilder sind eindringlich, mit hoher Empathie erfasst, die Textbeiträge eine perfekte Ergänzung zur Illustration. Mit seiner Arbeit holt Lepage die Zwischentöne einer Atomkatastrophe ins Bewusstsein, die meist im Rahmen von medialer Berichterstattung untergehen. Und sie bricht das auf, was meist in der Flut neuer Nachrichten verloren geht: die Aufarbeitung, die Folgen, denn wie immer geht das Leben weiter. Irgendwie. 🙂

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