Die Le Crique, ein Segelschiff, befindet sich auf hoher See. Chaos ist ausgebrochen. Einige Männer haben das Kommando an sich gerissen. Sie saufen, morden und vergewaltigen. In der Zivilisation sollte es besser zugehen, doch das Gegenteil ist der Fall. Der Tote, der in dem herrschaftlichen Zimmer liegt und sich den Bauch hält, hat sich nicht vollkommen kampflos ergeben. Möbel wurden weitläufig umgeworfen, Papiere verstreut. Die Polizei geht mit Routine an die neue Aufgabe heran. Schockiert ist hier wirklich niemand, allenfalls gibt es eine persönliche Nähe zum Fall, nur will sich kaum jemand so entblößen und dies vor anderen zeigen.
Eine Erzählung in bedrückender Atmosphäre. Autor Denis-Pierre Filippi hat sich mit sehr unterschiedlichen Szenarien im Comic-Bereich hervorgetan. Neben träumerischen Handlungen und historischen Geschichten mit Abenteuern und Thrillerelementen schaufelt er hier eindeutig am Abgrund der menschlichen Existenz und wendet dazu einen enorm guten erzählerischen Trick an: Er lässt den Leser mitdenken. Und dieser kann in seiner Phantasie einiges erfinden. Denn in einem der beiden Handlungsstränge, die hier parallel erzählt werden, verzichtet Denis-Pierre Filippi auf Worte und lässt nur Bilder sprechen. Und diese haben es in sich.
Vordergründig hat der Leser es mit einem Kriminalfall zu tun, an dem sich zwei recht ungleiche Ermittler festbeißen und in dem sich die Toten häufen. Im zweiten Handlungsstrang jedoch, der dem Leser mehr mitteilt, als die Ermittler wissen, erschließt sich ein Menschenbild, dem der Untertitel des ersten Bandes der Trilogie, Wilde Tiere, durchaus gerecht wird. Auf einer Insel im Nirgendwo stranden ein Mann und mehrere Kinder. Zuerst scheint die Welt noch in Ordnung. Man arrangiert sich mit den Umständen. Doch allmählich wandelt sich das Bild, denn die Nahrung wird knapp. Denis-Pierre Filippi spielt mit einer uralten Furcht des Menschen. Und er ist als Erzähler so gerissen, dass er einen Teil der Bilder im Kopf des Lesers entstehen lässt, indem er nur den Start und das Resultat zeigt.
Optisch wird nicht nur einiges geboten, es ist auch ein Spiel mit den Gegensätzen. Die Geschichte, gezeichnet von Patrick Laumond, koloriert von Sebastien Gerard, beginnt im New Yorker Teil der Handlung mit einem Blick auf den Moloch Manhattan, eine Insel der Straßenschluchten. Die beiden grafischen Künstler führen das Auge des Leser wie in einer bewährten Kamerafahrt von hoch oben hinein in die Stadt bis zu einem Tatort. Ist die andere Handlung, zunächst auf einem Segelschiff, dann auf der Insel, eher urtümlich, ist die moderne Welt daneben in kaltes Grau getaucht, abwesend und trotz ihrer Größe ebenso leer wirkend wie der weite Ozean.
Im Zusammenspiel der beiden Grafiker entsteht eine Atmosphäre, die sich auch bei Künstlern jener Tage, ungefähr in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts, finden lässt. Die Figuren sind etwas stilisiert, auch idealisiert für ihren jeweiligen Zweck. Der Farbauftrag ist milchig in einer zurückhaltenden Farbgebung. Das ist eine stilistische Mischung aus nachkolorierten Schwarzweißfotografien und künstlerischen Spitzen eines Art Deco. Letzterer geht natürlich in den Inselansichten verloren. Hier herrscht anfangs eine paradiesische Grundstimmung vor, die später ganz klar in eine grüne Hölle umschlägt.
Ein erster Band, der eindeutig Fragen aufwirft und nicht bereit ist, alle Rätsel gleich zu lösen. Aber Denis-Pierre Filippi geht das Wagnis ein, einmal anders, auch gegen den Strich zu erzählen, indem der parallel laufende Handlungsabschnitt völlig ohne Worte auskommt. Das ist mehr Arbeit für den Leser, aber der Trick funktioniert. 🙂
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