Der Lokführer Leon Van Bel hat das Ende seines Berufes, das Ende der Dampflokomotiven vor Augen. Immer mehr Maschinen werden verschrottet und andere Versorgungswege abseits der Schienenstränge geschaffen. Als Van Bel und seinem Heizer eines Tages wieder ein Lok auf einem Nachbargleis begegnet, die auf ihrer letzten Reise ist, fasst er einen verzweifelten Entschluss. Er will auf jeden Fall verhindern, dass seine ATLANTIC 12 diesen Weg geht. Aber wie soll er das anstellen? Wie bringt man eine riesige Lok in Sicherheit? Oder besser gesagt, wie stiehlt man eine Dampflok? Denn nichts anderes hat Leon Van Bel ins Auge gefasst.
Manchmal gibt es im Bereich Comic Überraschungen und Kleinode, die auch über das Medium hinausragen. ATLANTIC 12 ist eine solche Geschichte, die sich vordergründig mit der Ausmusterung einer Maschine befasst, aber vielmehr den Niedergang einer Ära beschreibt, Menschen mit eingeschlossen. Autor und Zeichner Francois Schuiten hat eine Geschichte verfasst, die sehr viel mehr umfasst als nur das nostalgische Gefühl über den Niedergang einer bis dato technischen Meisterleistung.
Die männliche Hauptfigur, Leon Van Bel, ein gestandener und erfahrener Mann, der seinen Beruf als Lokführer mit großer Leidenschaft verfolgte, der seine ATLANTIC 12 hegte und pflegte, seine Gesundheit für seinen Beruf riskierte und diesem sogar alles andere unterordnete, wird allmählich beiseite geschoben, auf das sprichwörtliche Abstellgleis, ein Wortspiel, das kaum besser passte als hier. Ein Mensch begreift eine Aufgabe als Lebenswerk, sein Arbeitswerkzeug soll nicht vergehen. Durch die langjährige Beziehung bleibt nur eine Lösung, um die ATLANTIC 12 vor dem Verschrotten zu bewahren: Entführung.
In penibel ausgeführten Schwarzweißbildern öffnet sich eine Geschichte, die zunächst wie aus dem Leben gegriffen wirkt und immer weiter in eine surreale Handlung abdriftet, wie sie auch einem George Orwell eingefallen sein könnte. Der Begriff Dystopie ist ebenfalls auf ATLANTIC 12 anwendbar, obwohl die Zielsetzung und die Hoffnungen der Figuren den Leser versöhnen. Die weite Welt, die Francois Schuiten beschreibt, erlebt eine wachsende Technisierung und zunehmende Entmenschlichung. Wo vorher Personen für den Transport verantwortlich waren, Eisenbahnen ihr Werk verrichteten, überziehen nun Stahlseile und Gondeln das Land. Immer mehr.
Ausgerechnet ein junges, stummes Mädchen und ein Sammler von Andenken einer ehemals bekannten Tänzerin machen der Figur des Leon Van Bel neuen Mut. In feinsten Strichen formt, schält und meißelt Schuiten realistische, meist düstere Bilder aus den Seiten heraus. Über allem liegt stets ein industrieller Rauch, eine Melancholie und der Fingerkniff, jedes Bild wie auf einer Bühne erstehen zu lassen. Ob in der Weite der dunklen Landschaft oder den gewaltigen Häuserblocks, überall findet sich die Einsamkeit, der Untergang, selbst die Hauptfigur erinnert an einen schwindsüchtigen Edvard Munch.
Vor diesem Schicksal eines sich mit letzter Kraft aufbäumenden Mannes verblasst beinahe die ATLANTIC 12, ein symbolträchtiges Wunderwerk der Technik, geschützt und in Sicherheit gebracht wie der letzte Dinosaurier, eine Ikone menschlicher Innovation und Schaffenskraft. Als Maschine ist sie von außerordentlicher Eleganz und vernichtet gleichzeitig ihren Lokführer, denjenigen, der sich so für sie einsetzt. Mit einer gekonnten Technik aus sanften Strichen, Schraffuren und Flächen reißt Francois Schuiten seine Szene auf und schafft Räumlichkeit, deren Atmosphäre zu alten Schwarzweißfilmen tendiert. Man könnte sogar behaupten, dass manchmal Worte überflüssig sind. Die Bildsprache allein ist außerordentlich gut.
Ein kleines Meisterwerk mit einem Blick auf viele kleine Details, die das Menschsein ausmachen. Die ATLANTIC 12, als Beispiel ebenfalls meisterhafter Schaffenskraft, ist das Bindeglied, dem hier ein fabelhaftes und überaus liebevolles Comic-Denkmal gesetzt wird. 🙂
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