Pauline ist weg. Kaum sind die anderen von der Zeremonie im Kopf des großen Toten zurückgekehrt, ist sie verschwunden. Kurz zuvor ging es ihr nicht gut. Andauernd musste sie sich übergeben. Pauline sagt selbst, dass diese Übelkeit erst nach dem Trunk des letzten Absud vorkomme.
Aus einer Geschichte, die zu einem Fantasy-Abenteuer wurde, wird nun ein gesellschaftskritischer Abriss, der nicht sehr weit von der Realität entfernt scheint und deshalb umso erschreckender ist. Erwan ist zurück aus dem Land des kleinen Volkes. Letztlich hat er diese Welt nie verlassen, er wurde nur geschrumpft. Wer der große Tote ist (oder besser: war), erfährt der Leser zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht, nur dass er eine Wende in die Zwistigkeiten des kleinen Volkes brachte und durch sein Auftauchen Frieden herbeiführte. Dieser Frieden ist nun in Gefahr.
Und mehr als das. In der eigenen Welt, der Welt der Großen, hat sich inzwischen das Chaos eingeschlichen. Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit sind über ein Randthema weit hinausgewachsen. Die unterschiedlich schnell ablaufende Zeit hat Erwan und Pauline einen Teil der Entwicklung überspringen lassen. An manchen Orten ist es noch besser, wie auf dem Lande, doch in der Stadt ist das Elend an jeder Ecke deutlich sichtbar. Die Hiobsbotschaften, die täglich zu hören und zu lesen sind, tragen nicht dazu bei, Hoffnung aufkeimen zu lassen.
Aber die Bedürftigen werden immer zahlreicher. Und die, die was geben, werden immer weniger. Das geht so nicht weiter, glauben Sie mir!
Regis Loisel und JB Djian, die beiden für das Szenario verantwortlichen Autoren, beschreiben ein schleichendes Chaos, einen langsam, aber stetig ablaufenden Strudel der Ereignisse, dessen Langsamkeit scheinbar niemand etwas entgegenzusetzen hat. Mit der Verarmung greift die Verwahrlosung der Straßen um sich, Paris wird stellenweise zum Zeltplatz für Obdachlose. Sieht man von der Darstellung einer Demonstration ab, begehrt niemand auf. Die gesellschaftliche Situation ist zu einer erschreckenden Selbstverständlichkeit verkommen. Vor dieser Kulisse forscht Erwan nach Pauline, die kurz vor ihm zurückgekommen ist und durch die Zeitverschiebung einen enormen Vorsprung hat.
Die Vermischung von Fantasy und überspitzter gesellschaftlicher Realität in dieser Form ist fremd, neuartig, aber auch faszinierend. Nach dem Blick auf die Probleme mit einer elfengleichen Kultur bildet unsere Kultur einen absoluten Gegensatz. Letztlich stellt sich nur die Frage, welche Kultur die wildere, ursprünglichere der beiden ist. Loisel und Djian streuen ein Rätsel aus, zu dem der Leser sich seine eigenen Gedanken machen mag, denn selbst Erwan findet die Lösung in dieser Ausgabe nicht. Und so ganz nebenbei, ohne dass Erwan (obwohl er maßgeblich daran beteiligt ist) darauf eingeht, wird die Saat für eine weitere Handlung, ein weiteres Problem gelegt.
Während Loisel und Djian ausgetretene Erzählpfade verlassen, beschreitet Zeichner Vincent Mallie erprobte, aber auch sehr gute Wege. Er arbeitet mit leichter Hand. Gerade mit Erwan und Pauline, den beiden Hauptfiguren, sind ihm exzellente Charaktere gelungen, die eine schöne Lebendigkeit ausstrahlen. Ein wenig lässt sich Mallies Stirch mit dem von Angel Medina und Greg Capullo (Spawn) vergleichen. Der Aufbau insgesamt ist zart zu nennen, wenngleich Mallie deutlich weniger Striche ansetzt und der Bildaufbau dadurch insgesamt sehr ruhig wirkt und zum Hinschauen einlädt. Es gibt nichts, was das Auge ausblenden muss, um den Kern des Bildes einzufangen (wie das bei anderen Zeichnern manchmal der Fall ist, wie sie es zu gut meinen).
Die feine Strichführung wird durch eine ebenso feine Kolorierung von Lapierre gestützt. Die Farben sind kräftig, aber nicht übertrieben. Lapierre ist um echt wirkende Farben und Lichter bemüht. Das entspricht den Grafiken von Mallie, der nur bei seinen Figuren einen zeitweiligen satirischen Strich anwendet, ansonsten aber am Realismus zu bleiben versucht.
Ein sehr mysteriöses Abenteuer, das auf eine neue Handlungsebene wechselt: Von der Phantastik in die harte Realität, das war angesichts üblicher magischer Geschichten nicht zu erwarten und ist deshalb umso spannender. Loisel und Djian haben hier eine tolle Idee umgesetzt, von der sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen lässt, wie es weitergehen, geschweige denn ausgehen wird. Erste Klasse. 🙂
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