Laghou ist geschickt und seinem Stamm durchaus eine Hilfe. Er kann Waffen fertigen wie kein zweiter, aber selber jagen kann er kaum. Sein Hinken lässt es nicht zu, dass er mit seinen Stammesbrüdern Schritt halten kann. Eines Tages ereilt den Stamm eine fürchterliche Nachricht, die Laghous Leben für immer verändern wird. Sein Vater wurde von einem riesigen Bison, der eine Legende unter den Jägern ist, schwer verletzt. Die Männer versammeln sich um den Sterbenden, der nur einen letzten Wunsch an die viel jüngeren Krieger hat. Man solle ihn rächen. Langbart, so der Name, den die Männer dem Bison gaben, muss sterben.
Laghou folgt den Rächern unbemerkt und muss eine grauenhafte Szene mitansehen, die ihn bis ins Mark erschüttert. Als Krüppel ist er ohnehin nicht gut bei seinem Stamm angesehen und ist ständig Anfeindungen ausgesetzt. Würde er sich mit seinem Wissen offenbaren, würde dies seinen sofortigen Tod bedeuten. Ein Zusammentreffen mit dem alten Einsiedler Ghoibu zeigt einen Ausweg auf. Doch diese Möglichkeit birgt einen langen gefahrvollen Weg, von dem niemand sagen kann, ob Laghou zurückkehrt, um seine Mission zu erfüllen: Langbart zu töten!
Die Zeit der Urmenschen hat immer schon fasziniert. Immer wieder in den letzten Jahrzehnten wurde das Thema neu angegangen, nicht zuletzt wegen neuer Erkenntnisse oder neuer, diese Epoche zumeist romantisierender Geschichten. Wer vor einigen Jahrzehnten aufwuchs wird sich vielleicht an die großartigen Illustrationen zum Thema Urzeitmenschen von Zdenek Burian erinnern, die immer wieder gerne herangezogen wurden, wenn es das Thema zu verdeutlichen galt. Im Comic begegnen die Leser dem Urzeitmenschen – nicht unbedingt dem Neandertaler – in Form von Rahan oder Tunga. Filmisch setzte Am Anfang war das Feuer dieser Zeitperiode ein Denkmal. Im Roman finden sich Ayla und andere Charaktere und jüngst fanden sich im Fernsehen viele Realfilmdokumentationen, die das Leben aus diesen frühen Menschheitstagen realistisch und mit viel Liebe zum Detail und lebensnahen Situationen veranschaulichen.
Somit ist Roudier mit seinem Auftakt Neandertal in einer langen Reihe von Geschichten aus jener Zeit in guter Gesellschaft, mehr noch, er ist auch eine gute Gesellschaft für die anderen.
Neueste wissenschaftliche Untersuchungen behaupten, dass der Neandertaler bereits zur Sprache und feineren Verständigung in der Lage war – ob er es tatsächlich tat, ist eine ganz andere Frage. Sicherlich verfügte er über zwischenmenschliche Riten, die von einem starken Zusammenhalt künden. Roudier, Autor und Zeichner in Personalunion, nimmt sich hier die erzählerische und künstlerische Freiheit, die bisherigen Erkenntnisse über diese Zeit ein wenig zu strecken. Der Neandertaler, jene eigenständige Menschenform neben dem Homo Sapiens, hat auch im Comic Erzähler zu Geschichten animiert, so zum Beispiel in der Science Fiction Geschichte KIN, die den Neandertaler in die Neuzeit hinüberrettet.
Roudier orientiert sich eher phantastisch, indem er gruselige Elemente einfügt, die natürlich dem Unwissen der Neandertaler zu verdanken sind. So wird aus Langbart, dem Bison, ein Überwesen mit rötlich glosenden Augen, dass mit einer ähnlichen Urgewalt angreift, wie es einst das Ungetüm im Film Razorback tat. Wer das Filmtitelbild mit Langbart vergleicht, wird die Ähnlichkeit sehen.
Die Welt von Laghou ist auf ihre Art phantastisch, da sie einen Blick in längst vergangene Zeiten gewährt. Roudier kann ganz wunderbar Landschaften und eine vergangene Tierwelt zum Leben erwecken. Bisons, Hyänen, Wölfe, Przewalski-Pferde oder Mammuts erscheinen vor einer kargen Landschaft, die durch ihr Aussehen den ständigen Überlebenskampf der Neandertaler treffend unterstreicht. Da verwundert es nicht, dass neben phantasievollen Namen der einzelnen Clans und Stämme auch die Blutmenschen vorkommen: Kannibalen, die bei ihren Nachbarn gefürchtet sind, da sie eines der Urgesetze brechen und Menschen fressen.
Roudiers Art zu zeichnen ist im besten Sinne klassisch und überaus realistisch zu nennen. Durch die getuschten Außenlinien schauen die Bilder wie eine Comic-Variante der Bilder des oben bereits erwähnten Zdenek Burian aus, was in diesem Fall ein großes Lob für Roudier sein sollte. Der hohe Grad des Perfektionismus macht aus den Bildern ein optisches Fest für den Leser.
Die Erzählung schwankt darüber hinaus zwischen sehr dialogstarken Seiten und Abschnitten – insbesondere wenn Laghou allein durch die Wildnis zieht – die vollkommen ohne Text auskommen. Gerade bei letzterem zeigt sich, wie gut Roudier allein durch seine Bildsprache zu erzählen vermag.
Ein Abenteuer fern vor unserer Zeit: Roudier hat einen sympathischen Helden geschaffen, der sich mit einer lebensgefährlichen Aufgabe konfrontiert sieht und wie in einem klassischen Abenteuer eine Aufgabe bewältigen muss, um die eigentliche Mission zu bestehen. Mit tollen Grafiken entführt Roudier den Leser in die Steinzeit. Wer gebannt vor den Dokumentationen oder Geschichten dieser Epoche saß – TV, Roman oder gar im Neanderthal Museum – sollte einen Blick in diese liebevoll gemachte Comic-Umsetzung riskieren. 🙂
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