Eigentlich wollte Luke keinen Anhalter mitnehmen. Aber der Mann im Rollstuhl weckt etwas Mitleid. Er hat keine Beine mehr. Eine Nickelbrille verbirgt häufig seine Augen. Eine Baseballmütze mit kleinen Flügeln lässt ihn manchmal ein wenig absurd aussehen. Absurd findet Luke auch so manche Ideen des Mannes, der mit Namen Bill heißt. Bill möchte seine Beine wieder haben, genauer, er möchte neue Beine haben. Angeblich gibt es einen Mann, der ihm diese zurückgeben kann. Das weiß er. Irgendwo gibt es ihn. Doch zuvor heißt es die Zeichen zu deuten und den Weg zu finden. Das ist alles andere als leicht, denn Zeichen gibt es genug, aber sind es auch Zeichen, die wichtig sind. Luke glaubt nicht an Zeichen. Tweety, seine kleine Tochter, glaubt an Bill. Und irgendwo sind beide froh, dass er die Reise mit ihnen macht, weil ssie so endlich auch ein Ziel haben.
Reisen haben einen besonderen Stellenwert im Leben des Menschen. Luke und seine Tochter Tweety sind auf einer Reise. Er nimmt sie mit. Luke weiß einmal nicht so recht wohin eigentlich die Reise gehen soll. Die Straße entlang. So wie das Leben eben ist. Meistens. Die Straße entlang. Ziellos. Bis sie Bill treffen, den Mann ohne Beine. Der Mann, der seine Beine im Krieg durch einen Hubschrauberabsturz verlor und nun nur noch einen Wunsch hat: Den Schamanen finden, der ihm diese wieder zurückgeben kann.
Der Beginn der Geschichte mutet noch realistisch an. Drei Menschen ohne echtes Ziel, genauer gesagt zwei, denn Tweety ist darauf angewiesen, dorthin zu gehen, wohin auch ihr Vater geht, weil sie noch zu jung ist. Es entsteht ein Dreiergespann. Luke, der Pessimist, der Verneiner, der Sucher, der nur nicht weiß, wonach er sucht. Bill, der Optimist ohne Beine, der genau weiß, was er sucht, etwas, von dem Luke glaubt, dass es sowieso nicht existiert. Und Tweety, die als Kind den größten Glauben von allen hat, das meiste Vertrauen und die mit ihren Fragen, ihrem ganzen Wesen ein Lebensantrieb für die beiden Männer ist.
Ein Roadmovie: Menschen begegnen sich für eine Weile. Matthias Schultheiss, der nach vielen Jahren einen neuen Comic hierzulande veröffentlicht, wieder mit einem Umweg über Frankreich mit Erstveröffentlichung, lässt sich mit seiner Erzählung über diese drei normalen Menschen Zeit: 288 Seiten lang.
Zuerst ist es der allseits bekannte mittlere Westen der USA mit seinen langen staubigen Straßen. Das ist normaler als normal. Später ist es der Süden, heiß, immer noch rassistisch, zurückgeblieben, aber auch mit den ersten Spuren des Geheimnisvollen. Es folgt der noch heißere, aber bunte Westen, am Meer, das dreckig ist. Im einem leerstehenden Hotel wird es gruselig. Im Norden schließlich, in der eisigen Kälte, wird das Ziel erreicht. Poetisch erzählt, phantastisch beschrieben.
Worte und Bilder ergänzen sich. Beides wird mit leichter Hand zu Papier gebracht, ungezwungen, wie es scheint. Manchmal ein wenig zufällig, wie das Leben selbst. Matthias Schultheiss skizziert das Leben zuerst blass, später mit immer kräftiger werdenden Farben. Je weiter es nach Norden geht, desto eindrucksvoller wird das Szenario, desto ausschweifender werden die optischen Eindrücke. Die Natur steht sehr stark im Vordergrund. Die Landschaft im Süden, eine üppige Natur mit mächtigen Gewittern. Die brandende See im Westen, die Schneestürme, das Treibeis, das Meer mit seinen unendlichen Tiefen und gigantische Wale. Schultheiss versteht es, mit optischen Eindrücken zu spielen und Gefühle im Leser hervorzurufen.
Ein grafische Novelle im besten Sinne. Realität und Fiktion vermischen sich, nicht nur für den Leser, auch für die Hauptfiguren. Das ist eine durch und durch erwachsene Geschichte, die auch als reiner Roman funktioniert hätte, aber als Comic umso beeindruckender geworden ist. Menschlich. Magisch. Einfach toll! 🙂
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