Ein Dämon ist schuld. Leider will Morton Chapel niemand glauben, dass ein gestaltloses Wesen für den Tod seiner Frau und das Verhalten seiner Tochter verantwortlich ist. Vor vielen Jahren tötete er seine Frau, die, besessen wie sie zu dem Zeitpunkt war, damit drohte die gemeinsame Tochter zu ermorden. Morton konnte nicht ahnen, dass der Dämon genau das im Schilde geführt hatte. So konnte er bequem in den Geist des Mädchens wechseln. Ihre Psyche, unausgereift, hatte den Einflüsterungen des Dämons nichts entgegenzusetzen. Morton Chapel hatte keine andere Wahl. Er brachte seine Tochter in eine geschlossene Anstalt.
Alle dachten, seine Tochter hätte der Schock über den brutalen Verlust der Mutter in einen Zustand der Starre fallen lassen, aber weit gefehlt! Der Dämon wartet, er spricht zu dem Kind, erzieht es in seinem Sinne, hetzt auf, macht es bereit für eine bestimmte Aufgabe. Als der Tag naht, wird Morton schmerzlich bewusst, was er tun muss: Megan, seine Tochter, töten.
W.E.S.T. entführt diesmal in ein Szenario, das von Xavier Dorison und Fabien Nury äußerst fein konstruiert wurde und mit sehr schönem hintergründigem Grusel aufwarten kann. Besessenheit ist mehrmals ein spannendes Thema gewesen. Diverse Filme, auch jüngeren Datums, zeugen davon. Der vorliegende historische Rahmen, die gelungen zueinander stehenden Hauptcharaktere und Nebenfiguren entwickeln ein Gespinst, dem sich der an dieser Art Geschichten interessierte Leser nur schwerlich entziehen kann.
Alles beginnt mit einem Rückblick. Obwohl sich die Sondereinheit W.E.S.T. mit außergewöhnlichen Fällen befasst, wird nicht gleich jedes merkwürdige Vorkommnis als nicht von dieser Welt klassifiziert. Kathryn Lennox, die Ärztin, die sich um Megan kümmert, schenkt den Worten von Morton Chapel um mysteriöse Mächte keinerlei Glauben. (Nach den Geschehnissen der ersten vier Bände hat sich das durchaus geändert.) Allein die Besessenheit macht ihr immer noch Schwierigkeiten. Das Mädchen selbst reagiert so gut wie nicht. Der Leser ist ebenso wie das Anstaltspersonal an dem Punkt angelangt, an dem er nicht glauben mag, dass sich das noch ändern wird. (Gut, das Titelbild verspricht etwas anderes. Vielleicht hätten hier die Macher dieser neuen Doppelfolge weniger forsch sein und nicht so viel verraten sollen.)
Der Dämon: Durch die Erzählungen Chapels weiß der Leser, dass es einen Dämon gibt. Die inneren Erlebnisse Megans tragen ihr Übriges zum Verständnis dieses Unholds bei. Weniger ist mehr, ließe sich dieses Monstrum überschreiben, denn so, wies es sich darstellt, ist der Dämon ein meuchelnder und mit Engelszungen redender Dandy. In geisterhaftes Weiß gekleidet weiß er seine Opfer durch sexuelle Handlungen wie auch durch simple Versprechungen zu becircen. Diese unheimlichen Ereignisse, die das Flair einer viktorianischen Gruselmähr umgibt, stehen im Gegensatz zu den realen Mordplänen an Morton Chapel. Dorison und Nury lassen hier den Hass eines alten und sehr einflussreichen Mannes auf Chapel los, der sich nun auch noch gegen ganz normale Menschen wehren muss.
Christian Rossi ist für die komplette Gestaltung der Geschichte verantwortlich. Dank ihm sieht der Leser die Unheimlichkeit des Geschehens, wird sie wie auf alten Fotografien oder Filmaufnahmen aus der Vergangenheit gerissen. Seine Bilder sind dem Realismus zugeneigt, doch wie auf einer alten Fotografie fehlt mitunter etwas, wirkt verwaschen oder es ist verblasst. Die Farben sind entsprechend reduziert und so angelegt, dass sie nicht stören, aber aktiv Stimmungen und Eindrücke vermitteln. Das mag auf den ersten Blick nicht sehr eindringlich sein, da die auch eher verhalten und blass wirken. Doch in der zweiten Wahrnehmung wird ein dunkles Rot umso intensiver.
Die schönsten Nebenfiguren im Sinne von überaus gelungen schafft Rossi mit Mr. Verhagen und dem indianischen Lehrer Angel Salvaje. Beide heben sich sehr vom Rest der auftretenden Charaktere ab, wenn gleich sie auch relativ kleine Auftritte haben. Die Handlung aber zeigt, dass ihnen in der Fortsetzung noch eine wichtige Rolle zufallen wird.
Grusel, wie er sein sollte und selten ist: Dorison und Nury beleben mit ihrer Geschichte um Besessenheit das Genre vortrefflich. Die zeitliche Kulisse der Handlung bietet genug Ähnlichkeiten mit der Gegenwart und auch genügend Andersartigkeit, um den Leser gekonnt zu entführen. Rossis Zeichnungen sind von außerordentlicher Perfektion, aber auch experimentierfreudig. Das Team arbeitet Hand in Hand und liefert ein Comic-Erlebnis wie aus einem Guss. 🙂
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