Der Pfarrer will nicht mehr auf der Kanzel stehen. Eine Messe will er nicht mehr lesen, eigentlich will er gar kein Pfarrer mehr sein. Handwerken kommt ihm besser zupass. Hier erlebt er mehr Glück als zuletzt, da er versuchte, als Pfarrer zu wirken. Doch seine Abwesenheit fällt auf. Die alten Gladu-Schwestern, Neuerungen nicht sehr positiv eingestellt, vermissen den Pfarrer und so machen sie sich, für jeden vollkommen unerwartet, auf den Weg, den Hirten wieder zu den verirrten Schafen zurückzuführen. Aber das Leben geht seltsame Wege. Auch hier. Wieder einmal, muss man sagen, denn es bleibt nicht bei dieser Veränderung. Marie ist schwanger und sie schüttelt die Schuldgefühle, sich über den Vater nicht im Klaren zu sein, langsam ab. Und obwohl es Winter ist, überschlagen sich die Gefühle inzwischen frühlingshaft.
Das Leben ändert sich im kleinen Dorf Notre Dame. Es ändert sich langsam, ohne die Menschen zu überfahren. Die Veränderungen machen ihnen sogar Spaß, es entsteht eine Lust an der Veränderung, die trotz allem nicht ganz geheuer scheint. Da wird gemeinsam ein Modekatalog auf der Suche nach neuen Kleidern studiert. Da entwickeln sich Liebschaften zögerlich und manche flüchten sich in eine merkwürdige Beschäftigung. Loisel und Tripp erzählen einige Passagen lediglich in Bildern, völlig textfrei, hin und wieder ergänzt nur die Stimme aus dem Off das Gezeigte.
Der sehr mit Einzelheiten gespickten Beschreibung der Figuren gelingt es, Das Nest ungeheuer plastisch vor den Augen und den Gefühlen des Lesers erstehen zu lassen. In der achten Folge, die der Entwicklung des Dorfes und der Menschen viele Teile hinzufügt, ist es fast wie ein Besuch bei Freunden, kaum noch wie die Lektüre eines Comics. Letztere Bezeichnung mag vor dieser Feststellung auch verschwimmen, da das Medium vielleicht am Thema neugierige Leser, die hiermit noch nie in Berührung gekommen sind, abschrecken könnte.
Inzwischen haben die beiden Autoren und Zeichner Regis Loisel und Jean-Louis Tripp einen Grad der Erzählung erreicht, der bekannte und erfolgreiche Historienromanciers wie John Jakes oder einer Colleen McCullough erinnert. Diese behandeln zwar andere Epochen, aber die Dichte ist vergleichbar. Der Leser lernt hier die Zeitenwende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts in der kanadischen Wildnis kennen, anders gelagert als die üblichen Epen, doch sehr einfühlsam und mit großer Freundlichkeit den eigenen Figuren gegenüber erzählt. Zwar fehlt es nicht an inneren Dramen und an Ereignissen, die mitreißen, grausam wird es aber nicht, denn Loisel und Tripp haben die Reihe bereits mit einem Toten gestartet, dessen Hinscheiden all die Geschichten in Gang setzte, die nun erzählt werden.
Der Blick auf diese vergangene Zeit ist bar jeden Kitsches. Es zeigt neben dem menschelnden Element auch die täglichen Aufgaben, derer man sich annehmen muss, da es keine übergeordneten Institutionen gibt, die sich darum kümmern. Wenn der Schnee zu hoch liegt, wird er geräumt. Wenn neue Kleider gebraucht werden, werden sie genäht. Schuhe werden gemacht. Mit der gleichen Lebensintensität wird aber auch miteinander gelebt, gefeiert, gekocht, geweint, gelacht und an einem Strang gezogen. Das mag für den einen oder anderen Leser die Handlung in die Nähe einer kleinen Farm rücken. Es ist jedoch ebenso ein wenig Tennesse Williams ohne die Bloßlegung der menschlichen Abgründe. Gegen diese verweigern sich Loisel und Tripp regelrecht. Und ihr Fehlen in dieser Geschichte wird auch nicht vermisst.
Grafisch halten Loisel und Tripp ihren Stil bei. Loisel arbeitet vor, entwirft die Szene, Tripp übernimmt die Feinarbeit, beide erzählen. Sorgsame Tuschstriche und Bleistiftschraffuren, Grautönen werden zum guten Schluss von Francois Lapierre in sanften Farben koloriert.
Immer wieder ein Erlebnis. In den ersten acht Bänden bis hierher berichten Loisel und Tripp über einen zweijährigen Zeitraum, in dem das Dörfchen Notre Dame einen gehörigen Wandel erlebt. Dem Geschehen entsprechend zart illustriert, erzählerisch sehr nah an den Figuren. Schön. 🙂
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