1889. Der englische Gentleman, der sich in den Londoner Stadtteil Whitechapel verirrt hat, ist misstrauisch, indes seine Verfolger bemerkt er trotzdem nicht. Die kleinen Streuner, Kinder allesamt, gehören so sehr zum Stadtbild, dass sie niemand zu beachten scheint. Für Sherlock Holmes, den bekannten Detektiven, bedeuten sie ein hervorragendes Instrument der Beschattung. Und er kann sich auf sie verlassen. Je öfter sie ihrer Beschäftigung für den Meisterdetektiven nachgehen, umso versierter werden sie in ihrer Arbeit. Umso mehr sehen sie sich auch imstande, einen Fall selbst aufzuklären: Das Geheimnis des Blauen Vorhangs.
Die Baker Street Boys, Tom, Billy und Charlie, haben sich für ihre Verhältnisse gut mit dem Leben arrangiert. Tom, etwas eigenbrödlerisch, ist sogar auf dem besten Wege, sein Herz an das Blumenmädchen Betty zu verlieren. Als sie vor Toms Augen entführt wird, hält ihn nichts davon ab, ihre Spur aufzunehmen, um sie zu befreien.
Ein Serienauftakt ist immer etwas Besonderes. Mit den Vier von der Baker Street ist den drei Erzählern ein perfekter Start geglückt. Nach der anfänglichen detektivischen Arbeit in jener Zeitperiode, die nicht nur durch die literarische Figur Sherlock Holmes, sondern auch durch den realeren Mehrfachmörder Jack the Ripper in historischer Erinnerung geblieben ist, müssen sich die drei Helden auf eine gefährliche Rettungsmission aufmachen. Drei? Ja, richtig, zu Beginn sind es noch drei, aber so wie aus einem bekannten Duo im Laufe eines Comics einmal drei wurden, werden es auch hier … vier.
Die Erzählung besitzt Charme, Humor, Spannung, die Atmosphäre eines Jungendabenteuers von Dickens und auch ein gewisses Disney-Flair. Hätte ein Film wie 101 Dalmatiner konsequenter in einer Albumfassung gestaltet werden können, sicherlich auch mit den technischen Möglichkeiten von heute, hätte etwas ähnliches wie die Grafiken von David Etien daraus entstehen können. Die Qualität des Titelbildes zieht sich durch den gesamten Band und wurde nicht, wie in anderen Fällen, mit mehr Zeitaufwand gestaltet. Wer genau hinschaut wird viel vom Disney-Look entdecken.
Deutlich runde wie auch sehr schmale Gesichter mit großen Augen und breit ausgeführten Mündern. Stilistisch schwer anmutende Schurken mit pyramidenartigem Kopf, einem Oberkörper wie ein Fass und vergleichsweise Stummelbeinen. Ein eher bedächtiger Obergauner, mit einem Gesicht, wie es auch zu einem Kapitän Ahab passen könnte. Ein König der Bettler, der anmutet, als habe er einen Bruder bei den Ratten, der Rattenzahn heißt (aus: Basil, der große Mäusedetektiv, eine tierische Hommage an Sherlock Holmes). Gleichwohl ist bei aller Ähnlichkeit der Stilrichtung ein weitaus größerer Realismus hier zu finden.
Dies zeigt sich in allen Belangen, grafisch wie erzählerisch. Sind die Helden auch Kinder, wird das Thema Zwangsprostitution, besser gesagt die verbrecherische Versteigerung eines unberührten Mädchens, zum Hintergrund der Handlung. Da lassen die beiden Erzähler J.B. Djian und Olivier Legrand im wahrsten Sinne des Wortes den Spaß aufhören. Einerseits gibt es artistische Action zu bestaunen, andererseits fehlt den brutalen Schurken die disneysche Überspitzung, um spaßig zu sein.
David Etien hingegen bezaubert mit tollen Ansichten eines victorianischen Londons. Ob Gesamtansichten aus der Luft, die herrschaftlichen Straßen oder auch das Reich des Bettlerkönigs, alles ist prächtig anzuschauen und alleine für sich einen Blick wert.
Eine sehr liebevolle und mit Sinn für Perfektion ausgearbeitete Geschichte: Ein jugendliches Abenteuer mit ernstem Hintergrund, eine Hommage an den größten literarischen Detektiven, mit einer grafisch anspruchsvollen Gestaltung. Sehr gut. 🙂
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