1944. Es herrscht Krieg in Europa. Nach der Luftschlacht über England sind es nun die deutschen Raketen, die den Briten das Leben schwer machen und die Zivilbevölkerung peinigen. Emilys schmales Haus steht unberührt inmitten der Trümmer. An einem grauen Tag erhält sie Besuch von einem gewissen Jarawal aus Kalapur. Er fragt, ob sie sich an ihn und Kalapur erinnere. Aber Emily will sich an nichts erinnern. Sie hat die Erlebnisse aus ihrer Kindheit weit hinter sich zurückgelassen. Mehr noch, sie will mit Indien und ihren Erinnerungen daran nichts mehr zu tun haben.
Ende 1927 machte sich Amelia Harryson mit ihrer kleinen Tochter Emy auf die beschwerliche Reise in das ferne Indien. Sie folgt ihrem Mann, Captain Harryson, der dort bei der britischen Armee stationiert ist. Die Ankunft ist ein Kulturschock. Indien hat gar nichts von der britischen Unnahbarkeit und Aufgeräumtheit. Die Kastenlosen leben auf den Straßen und verdeutlichen die Armut. Wenig später zeigt das Erscheinen von Dharma Singh, des Maharadschas von Kalapur, die andere, die prunkvolle Seite von Indien.
Indien erhitzt die Gemüter im wahrsten Sinne des Wortes. Auch Amelia ist nicht davor gefeit, während ihr Mann Thomas ganz der Alte zu bleiben scheint. Gefangen in britischer Manierlichkeit und Pflichterfüllung bemerkt er nicht das aufkeimende Verlangen seiner Frau angesichts des Maharadschas, den er als Offizier beschützen soll. Emy, die kleine Tochter, wird ebenfalls von diesem Land eingefangen. Eines Tages erblickt sie die Inkarnation von Ganesha in Form einer nackten jungen Frau, die auf einem Elefanten reitet. Und nur sehr alte Seelen, so heißt es, können die Avatara, die göttlichen Erscheinungen sehen.
Indien. Selbst in der heutigen Zeit erscheint es immer noch geheimnisvoll. Obwohl Armut, Atomraketen und Terroranschläge offenkundig nichts von der Romantik in der Welt verbreitet, die ein Westler bei der Namensnennung Indiens empfinden möchte, ist die Faszination an diesem Land ungebrochen. So ist denn das gemeinschaftliche Werk von Maryse und J.F. Charles eine Liebeserklärung an dieses aus unserer Sicht so ferne Land.
Auffällig ist die Gestaltung, der auf 200 Seiten erzählten Geschichte. Ohne auch nur die Handlung gelesen zu haben, nur durch das Durchblättern, faszinieren die wunderbar gemalten Bilder, die J.F. Charles ohne Umweg koloriert hat. Die Aquarelltechnik macht aus der gesamten Atmosphäre etwas Zauberhaftes, Anziehendes und macht aus der gesamten dargestellten Welt, selbst aus den Grafiken eines von Bomben zerstörten Londons etwas Magisches.
India Dreams ist mehr als nur Magie und Liebe (obwohl das schon ausreichend wäre), es ist auch ein Epochen- und ein Sittengemälde. Beginnend mit der zweiten Hälfte der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts folgt der Leser einer Familiengeschichte bis in die Sechziger Jahre hinein. Die Geschichte ist um Ernsthaftigkeit bemüht. Exotik bleibt nicht aus, doch ein Abenteuer im Stile eines Kali Yug: Aufruhr in Indien oder eines Der Tiger von Eschnapur sucht der Leser hier vergebens. Doch ganz ohne Kämpfe geht es auch hier nicht. Kolonialisierung bedeutet zwangsläufig auch Gegenwehr. Die Engländer sind Fremde in diesem Land. Ihre Lebensart und ihr Auftreten sind fehl am Platz. Zwar empfangen Freundlichkeit und Entgegenkommen, doch zu verschieden sind die beiden Kulturen. Erst viel später erfolgt am Beispiel der Enkelkinder eine Annäherung, aber nur, weil der indische Teil ihrer Beziehung, Jay, eine englische Erziehung und Ausbildung genossen hat.
Während besagte Enkelkinder ein logischer Schritt der Erzählung sind, können sie den Leser nicht mehr ganz so in ihren Bann schlagen, wie es noch die Großeltern und Eltern vermögen. Die Kluft der Kulturen, die Intrigen, auch die nationalen Spannungen erzeugen auf ungezwungene, aber nachdrückliche Art eine ungeheure Anziehung, die eine Unterbrechung des Lesens nur schwer möglich macht.
Und ist es nicht die Handlung, die den Leser voranzieht, sind es die Bilder, die India Dreams so unwiderstehlich machen. Eine Fotografie kann auch von vergangenen Zeiten und fremden Ländern zeugen, doch J.F. Charles fängt die Augenblicke mit großer und auch zarter Intensität ein, so dass dieser geschichtliche Abschnitt weitaus mehr Gefühl ausstrahlt, als es eine Fotografie je könnte.
Ein kleines Erlebnis, ein schöner Blick in eine Familiengeschichte, beinahe leise zu nennen, aber sehr intensiv erzählt. Die grafische Gestaltung macht India Dreams zu einem Sahnehäubchen. 🙂
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